Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der grüne Strahl

Der grüne Strahl

Titel: Der grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
gesetzte Herrscherin des Hauswesens vor, das hier auch in allem Umfange ihrem Ressort angehörte. Vielleicht meinte sie gar, die beiden Brüder Melvill, obwohl diese älter waren als sie, selbst aufgezogen zu haben; jedenfalls widmete sie wenigstens der Miß Campbell mütterliche Sorgfalt.
    Neben dieser schätzenswerthen Intendantin figurirte der Schotte Patridge, ein seinen Herren unter allen Bedingungen ergebener Diener, der noch dem alten Clan treu geblieben war. Unveränderlich bekleidet mit dem nationalen Costüm der Bergschotten, trug er die bunte hohe Mütze, den Schurz aus großgewürfeltem Wollenstoff, der ihm über den kurzen Rock bis zu den Knien herabhing, den Pouch, eine Art Beutel aus langen Fasern, die hohen, durch rautenförmig geflochtene Schnüre gehaltenen Gamaschen und die gebräuchliche Fußbekleidung mit Sandalen aus Rindsleder.
    Eine Frau Beß als Wirthschafterin, und einen Patridge als Schutz des Hauses, was konnte es mehr bedürfen, um sich hienieden der Sicherheit häuslicher Ruhe zu erfreuen?
    Der Leser wird bemerkt haben, daß Patridge bei Beantwortung der Fragen der Brüder Melvill, als er von dem jungen Mädchen sprach, nur »Miß Campbell« sagte.
    Hätte der wackere Schotte sie nämlich »Miß Helena«, also bei ihrem Taufnamen genannt, so würde er sich eines groben Verstoßes gegen die Regeln schuldig gemacht haben, welche die gesellschaftliche Stellung der Personen bezeichnen – eine Verletzung des Anstandes, die man speciell mit dem Wort »Snobismus« zu kennzeichnen pflegt.
    In der That trägt die letzte, respective die einzige Tochter einer vornehmen Familie niemals ihren Taufnamen. Wäre Miß Campbell die Tochter eines Pairs gewesen, so würde sie »Lady Helena« genannt worden sein; der Zweig der Campbells aber, zu dem sie gehörte, war nur in Seitenlinie und ziemlich entfernt verwandt mit der directen Linie des Paladin Sir Colin Campbell, dessen Ahnen bis zu den Kreuzzügen zurückreichen. Seit mehreren Jahrhunderten schon hatten sich aus dem gemeinsamen Stamme Zweige getrennt, von der Linie des ruhmreichen Ahnherrn, an welchen die Clans von Argyle, von Breadalbane, von Lochnell und Andere anknüpfen; so entfernt sie diesen auch stand, fühlte Helena doch von ihrem Vater her in ihren Adern ein wenig Blut rollen von dem Blute jener weitberühmten Familie.
    Außer eine stammesechte Miß Campbell war sie jedoch auch eine wahre Schottin, eine jener edlen herrlichen Töchter von Thule mit blauen Augen und blonden Haaren, deren von Findon oder Edwards gemaltes Porträt, wenn es unter die Minnas, Brendas, Amy Robsarts, Flora Mac-Ivors, Diana Vernons, die Miß Wardour, Catherine Glovers oder Mary Avenels placirt wurde, die »Keepsakes« (Erinnerungszeichen und Sammlungen) nicht verunziert hätte, in denen die Engländer die schönsten weiblichen Typen ihres großen Romanciers zusammenzustellen lieben.
    Wirklich, sie war reizend, diese Miß Campbell. Jedermann bewunderte ihr hübsches Gesicht mit den blauen Augen – dem Blau der schottischen Seen, wie man gern sagte – ihre mittelgroße, aber elegante Figur, den etwas stolzen Gang, ihre meist etwas träumerische Physiognomie, wenn nicht ein leicht ironischer Anflug ihre Züge belebte, endlich überhaupt die ganze von Grazie und Vornehmheit zeugende Erscheinung.
    Und Miß Campbell war nicht allein schön, sie war auch gutherzig. Reich durch ihre beiden Onkels, vermied sie es doch stets, prahlsüchtig zu erscheinen Mitleidigen Herzens, bemühte sie sich vielmehr, das alte, gaëlische Sprichwort zu bestätigen: »Möchte die Hand, welche sich öffnet, stets voll sein!«
    Vor Allem hing sie mit ganzem Herzen an ihrer heimatlichen Provinz, an ihrem Clan und ihrer Familie, mit einem Worte, sie war mit Leib und Seele eine echte Schottin. Sie hätte ohne Bedenken dem niedrigsten Sawney den Vortritt vor dem größten und reichsten John Bull zugestanden, die patriotischen Fibern ihres Herzens erzitterten wie die Saiten einer Harfe, wenn von der Stimme eines Bergbewohners im Lande ein nationaler Pibroch der Hochländer an ihr Ohr schlug.
    De Maistre hat gesagt: »Es gibt in uns zwei Wesen: »Ich und der Andere«.
    Dieses »Ich« der Miß Campbell drückte sich aus in dem ernsten, überlegenden Wesen, welches das Erdenleben ebenso vom Standpunkt der Pflichten, wie der Rechte in’s Auge faßte. Der »Andere« verrieth sich in der romantischen, etwas zum Aberglauben neigenden Natur, welche die wunderbaren Sagen liebt, die in der Heimat

Weitere Kostenlose Bücher