Der grüne Strahl
des Landes begeben, wo sich ein unbegrenzter Fernblick bietet, und das auch noch vor dem Auftreten der Herbstnebel ausführen.
Wohin die Reise gehen würde, das galt der Miß Campbell gleichviel. Ob nach der Küste von Irland, der von Frankreich, Norwegen, Spanien oder Portugal – sie wäre überall mit hingegangen, wo das Strahlengestirn des Himmels sie beim Untergang mit seinem letzten Lichtblitze begrüßen konnte, und ob das den Brüdern Melvill paßte oder nicht, sie mußten ihr eben nachgeben.
Die beiden Onkels beeilten sich also das Wort zu nehmen, nachdem sie sich einen fragenden Blick zugeworfen – aber welchen Blick, und wie durchleuchtete denselben der frohe Schimmer eines seinen diplomatischen Schachzuges!
»Nun gut, meine liebe Helena, begann Bruder Sam, es ist ja ganz leicht, Deinen Wunsch zu erfüllen. Wir wollen nach Oban gehen.
– Es liegt auf der Hand, daß es einen geeigneteren Punkt als Oban gar nicht geben kann, setzte Bruder Sib hinzu.
– Meinetwegen nach Oban, versetzte Miß Campbell. Aber hat Oban wirklich auch einen freien Meereshorizont vor sich?
– Das will ich meinen! rief Bruder Sam.
– Es hat deren vielleicht gar zwei! bestätigte Bruder Sib.
– Gut, so reisen wir dahin.
– Binnen drei Tagen, meinte einer der Onkels.
– Binnen zwei Tagen, sagte der Andere, welcher es für angezeigt hielt, diese kleine Concession zu machen.
– Nein, morgen, erklärte Miß Campbell aufstehend, da eben die Tischglocke läutete.
– Morgen… ja wohl, morgen! sagte Bruder Sam kleinlaut.
– Ich möchte, wir wären schon da«, äußerte Bruder Sib.
Sie sagten Beide die Wahrheit. Warum aber diese Eile? Weil Aristobulos Ursiclos sich seit vierzehn Tagen zum Landaufenthalte nach Oban begeben hatte; weil Miß Campbell, welche davon nichts wußte, sich dort in Gesellschaft dieses jungen Herrn befinden würde, den sie aus allen Gelehrten erwählt, während die Brüder Melvill gar nicht daran zweifelten, daß es in Oban entsetzlich langweilig sei. Die jetzt etwas hinterlistigen Brüder rechneten nämlich darauf, daß Miß Campbell es zeitig genug überdrüssig werden dürfte, vergeblich auf einen geeigneten Sonnenuntergang zu harren, daß sie dann von ihrer etwas phantastischen Schrulle absehen und dem ihr zugedachten Verlobten die Hand reichen werde.
Doch selbst wenn Helena das geahnt hätte, würde es für sie einflußlos gewesen sein. Die Anwesenheit Aristobulos Ursiclos’ war nicht dazu angethan, sie zu geniren.
»Bet!
– Beth!
– Beß!
– Betsey!
– Betty!«
Wieder schallte die ganze Rufnamenreihe durch den Salon; diesmal aber erschien Frau Beß in eigener Person und empfing den Befehl, morgen Alles zu einer bevorstehenden Abreise bereitzustellen.
Es galt in der That zu eilen. Der jetzt über 30 und 3/10 »Zoll (760 Mm.) hoch stehende Barometer versprach noch andauernde gute Witterung. Wenn man morgen früh abreiste, konnte man noch zu guter Stunde in Oban eintreffen, um den Sonnenuntergang zu beobachten.
Natürlich waren Frau Beß und Patridge wegen dieser plötzlichen Reise mit Arbeit überhäuft. Die siebenundvierzig Schlüssel der wackeren Frau klirrten und klingelten, wie die Schellen am Lederzeug eines spanischen Maulesels. Wie viele Schränke, wie viele Kästen gab es da zu öffnen und zu verschließen. Vielleicht blieb die Cottage in Helensburgh auf lange Zeit verlassen. Wer konnte die Launen der Miß Campbell ahnen? Wenn es nun dem liebenswürdigen Mädchen einfiel, ihrem Grünen Strahl nachzulaufen? Und wenn dieser Grüne Strahl gar damit coquettirte, sich zu verstecken? Wenn nun der Horizont von Oban nicht die zu derartigen Beobachtungen unerläßliche Klarheit darbot? Wenn es sich nöthig machte, einen anderen astronomischen Standpunkt am südlicheren Ufer Schottlands, an den Englands oder Irlands aufzusuchen, vom Continent ganz zu schweigen? Morgen würde man abreisen, das stand wohl fest; aber wann würde man nach der Cottage zurückkehren? Nach einem oder nach sechs Monaten, nach einem oder nach sechs Jahren?
»Wie kommt sie nur auf die Idee, den Grünen Strahl sehen zu wollen? fragte Frau Beß, welche Patridge nach Kräften unterstützte.
– Ja, weiß ich’s? antwortete Patridge, doch es muß wohl seinen guten Grund haben, denn unsere junge Herrin thut nichts ohne vernünftige Ursache, das wissen Sie ja so gut wie ich, Mavourneen!«
Mavourneen ist ein Schmeichelwort, das man in Schottland oft und gerne anwendet, und dem etwa im Deutschen »mein
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