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Der grüne Strahl

Der grüne Strahl

Titel: Der grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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nur eine Person darin Platz finden konnte. Die Sage gab diesem Loche den Namen »Fingal’s Armstuhl«.
    In diese Nische hatte sich die von dem steigenden Meere erschreckte Miß Campbell geflüchtet.
    Einige Stunden vorher war der Zugang zur Grotte bei der Ebbe ganz unbehindert gewesen und sie hatte arglos hier ihren gewöhnlichen Besuch machen wollen. Versunken in ihre Träume, hatte sie an die Gefahr gar nicht gedacht, welche die Fluth mit sich bringen mußte, und wie groß war ihr Entsetzen, als sie wieder hinausgehen wollte und sich überzeugte, daß ihr das eindringende Wasser jeden Weg versperrte!
    Miß Campbell verlor indeß nicht den Kopf; sie suchte sich Deckung, so gut es anging, und nach mehreren vergeblichen Bemühungen, noch nach Außen zu gelangen, erreichte sie wenigstens, freilich unter der Gefahr, zwanzigmal vom Wasser fortgerissen zu werden, den Armstuhl Fingal’s.
    Dort fand sie Olivier Sinclair eingeklemmt, aber doch außerhalb der Tragweite der Wogen.
    »O, Miß Campbell, rief er, wie konnten Sie auch so unvorsichtig sein, sich bei Beginn des Sturmes in solche Gefahr zu begeben? Wir hielten sie schon für verloren.
    – Und Sie sind doch gekommen, mich zu retten, Herr Olivier? antwortete Miß Campbell, mehr gerührt von dem Muthe des jungen Mannes, als erschreckt von den Gefahren, die ihr noch drohen konnten.
    – Ich bin gekommen, Sie aus schlimmer Lage zu befreien, Miß Campbell, und mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen. Sie haben doch keine Furcht?
    – Ich habe keine Furcht, gewiß nicht!… Da Sie bei mir sind, fürchte ich nichts mehr… Und kann man übrigens eine andere Empfindung als die maßloser Bewunderung haben gegenüber einem so erhabenen Schauspiel?… Sehen Sie selbst.«
    Miß Campbell hatte sich ganz bis in den Hintergrund der kleinen Aushöhlung zurückgedrängt. Dicht vor ihr stehend, suchte Olivier Sinclair sie bestmöglich zu schützen, wenn eine sich wüthend aufbäumende Welle sie zu erreichen drohte.
    Beide schwiegen still. Mußte Olivier Sinclair denn sprechen, um sich verständlich zu machen? Und wozu hätte es der Worte bedurft, um alles das auszudrücken, was Miß Campbell empfand?
    Der junge Mann sah indeß mit unsäglicher Angst, nicht um seinet-, wohl aber um Miß Campbell’s willen, die zunehmende Gefahr ihrer Lage. Wenn er das Heulen des Windes, das Tosen des Meeres hörte, verrieth ihm das nicht, daß der Sturm sich mit noch wachsender Wuth entfesselte? Sah er nicht, wie das Wasser unter der Mitwirkung der Fluth noch immer mehr anstieg und die Höhle noch weiter anfüllte? Wenn jetzt hier keine absolute Finsterniß herrschte, so kam das daher, daß die Wogenkämme gleichsam von außen eingesaugtes Licht mitbrachten. Breite phosphorescirende Flächen leuchteten dabei wie durch eine Art elektrischer Ausstrahlung, die sich an den Winkeln des Basaltes brach, die Kanten der Prismen erhellte und einen gewissen Dämmerschein zurückließ.
    Bei dem kurzandauernden Aufleuchten dieser Lichtblitze wandte sich Olivier Sinclair gegen Miß Campbell um. Er schaute ihr mit einer Erregung in’s Gesicht, welche nicht allein durch die Gefahr hervorgerufen wurde.
    Miß Campbell lächelte freudig bei der Erhabenheit des Schauspiels – bei dem Sturm in dieser Höhle.
    Da brandete eine unermeßliche Woge bis zur Vertiefung des Armstuhls Fingal’s hinaus. Olivier Sinclair glaubte, daß er und sie davon aus ihrem Schlupfwinkel herausgerissen werden könnten.
    Er umschlang das junge Mädchen mit beiden Armen gleich einer Beute, welche das Meer ihm entreißen wollte.
    »Olivier! Olivier!… rief Miß Campbell voller Schrecken, den sie nicht bemeistern konnte.
    – Fürchten Sie nichts, Helena, antwortete Olivier Sinclair. Ich werde Sie schützen, Helena… ich…«
    Er sagte es, er wollte sie vertheidigen und schützen! Doch wie? Wie konnte er sie der Wuth der Wellen entziehen, wenn diese noch mehr zunahm, wenn das Wasser noch immer höher anstieg, wenn auch dieser letzte Zufluchtsort unhaltbar wurde? Wo würde er eine Stelle finden, die nicht von dem wüthend erregten Meere erreicht wurde? Alle diese Möglichkeiten drängten sich ihm in all’ ihrer Schrecklichkeit vor Augen.
    Vor allen Dingen kaltes Blut! Olivier Sinclair gelobte sich, wenigstens seiner selbst Herr zu bleiben.
    Er mußte das um so mehr, da dem jungen Mädchen, wenn auch nicht die moralische, doch die physische Kraft bald genug ausgehen konnte. Erschöpft von zu langem Kampfe, mußte jeden Augenblick die

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