Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
Seine Wohnung stöhnt und ächzt. Der Holzfußboden knarrt. Die Esszimmerstühle, schwere, gehorsame Lasttiere, scharen sich um den Tischtrog. Die Wohnung ist lebendig. Alles ist auf seine Weise lebendig. Er liegt auf dem Rücken, verschränkt die Finger im Nacken und studiert die Schatten an der Decke. Bald wird die Dämmerung anbrechen, denkt er, immer wieder frisch, immer wieder magisch. Plötzlich Panik. Kalte Panik überwältigt ihn. Sein Atem kommt zum Stillstand, und blitzartig und Übelkeit erregend wird ihm klar: Bora wusste nichts von dem Mädchen. Er, der Psychologe, hat sie verraten. Er, in seinem Eifer, dem üblen Gauner eine Abfuhr zu erteilen, Tiffany zu beschützen, er mit seinem Geplapper über ihre Rechte und Wünsche hat den Gedanken an ein Geheimnis durchschimmern lassen; er hat Bora den Tipp gegeben, einen Hinweis, dass Tiffany irgendetwas mehr wertschätzen könnte als sich selbst. Er hat Tiffany verraten, und er hat seinen Kodex verraten. Und was nun?
Danach liegt er stundenlang im Bett und wirft sich von einer Seite auf die andere. Er schlägt mit dem Kopf auf das Kissen und flucht ins Leere. Er versucht zu schlafen, doch es gelingt ihm nicht. Er macht Jagd auf den Schlaf, aber eine saure, scharfe Schlaflosigkeit macht stattdessen Jagd auf ihn. Er starrt auf den Wecker, bis er klingelt.
35
T iffany sitzt ihm in seinem Sprechzimmer in der Praxis gegenüber. Ihre Augen sind vom Weinen und aus Schlafmangel rot und geschwollen. Ohne Make-up wirkt ihre Haut grau; ihre Kleider hängen ihr lose um die mageren Schultern. Sie wühlt nervös in ihrer Handtasche und zieht eine Zigarette und ein Feuerzeug heraus. Sie zündet sie an und nimmt einen tiefen Zug. Er sitzt ruhig da. Sie schlägt die Beine übereinander, stützt die Ellbogen auf die Knie und sieht ihn an, dann ihre Zigarette, dann wieder ihn.
Er wartet.
»Wollen Sie nichts sagen? Ihre Regeln?«
»Gestern Nacht tauchten Sie völlig durcheinander bei mir auf. Sie sagten etwas über Bora und das Mädchen. Ich möchte genau verstehen, was los ist«, sagt der Psychologe sachlich.
Sie schweigt und wirkt von seiner Strenge überrascht. »Er hat mich bedroht«, sagt sie. »Gestern, wie er das immer so macht, diese Schlange, Sie haben ihn gesehen …« Sie zieht an ihrer Zigarette. »Er sagte, vielleicht kannst du deinen Psychologen für dumm verkaufen, aber mich kannst du nicht für dumm verkaufen. Bora kann man nicht für dumm verkaufen. Ich wittere etwas. Ich habe mich um dich gekümmert, ich habe dir eine schöne Stelle verschafft. Ich passe auf dich auf. Du wirst dich nicht so schnell aus dem Staub machen. Ich habe mich gegen ihn zur Wehr gesetzt. Wissen Sie, diesmal … die Dinge, über die wir hier gesprochen haben, sind mir eingefallen; ich bin
ein Mensch, ein menschliches Wesen, ein vollwertiger Mensch, kein halber Mensch, kein Unmensch. Ich habe überlebt. Ich bin keine Sklavin. Ich habe Rechte. Ich habe ihm ins Gesicht gesagt: Ich bin nicht deine Sklavin, ich habe Rechte, du hast Geld mit mir verdient, jeden Abend hast du mit mir Geld verdient; ich habe es satt, habe ich zu ihm gesagt, ich bin keine Maschine. Plötzlich bin ich durchgedreht, ich fing an zu schreien, wissen Sie, ihm Sachen an den Kopf zu werfen. Ich habe ihm gesagt, er kann mich nicht festhalten. Wenn ich gehen will, werde ich das tun … er kann mich nicht festhalten. Ich bin nicht im Gefängnis. Ein paar von den Mädchen sind gekommen, um mich zurückzuhalten. Er hat sich neben mich gestellt und mir zugeflüstert: Ich weiß über das Mädchen Bescheid. Und ich habe einiges über dich. Wenn ein Richter sieht, was ich über dich habe, denkst du, dass du dann das Sorgerecht kriegst? Wenn du dein Mädchen sehen willst, wirst du es schlau anstellen müssen. Wir zwei werden schon miteinander ins Geschäft kommen, was?« Sie weint leise. »Diese Schlange«, sagt sie. »Ich habe aufgepasst. Wie hat er das herausgefunden? Er muss mir nachspioniert haben.«
Der Psychologe beugt sich vor. »Erstens, ich freue mich für Sie«, sagt er.
»Freuen?«
»Mit dem Entschluss, sich gegen ihn aufzulehnen, Ihre Rechte einzufordern, haben Sie richtig gehandelt; ein positiver und mutiger Entschluss.«
»Es war kein richtiger Entschluss, ich bin einfach durchgedreht. «
»Wir entscheiden uns auch durchzudrehen«, sagt er, »in gewisser Weise. Sie haben hier einen gesunden Impuls zum Ausdruck gebracht.«
»Wenig Gutes ist dabei herausgekommen …«
»Wir werden das Ergebnis getrennt
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