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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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beugt, sie rasch entfernt und der Reihe nach auf einem Stück Zeitungspapier anordnet, das er auf dem Fußboden ausgelegt hat, und sie mit einem Stift nummeriert. Der Junge kehrt zu seinem Kopfhörer zurück und starrt aus dem Fenster. Der Klavierstimmer faltet das Zeitungspapier sorgfältig zusammen und sammelt seine Werkzeuge ein. Er bellt seinem Sohn etwas zu, und der Junge hebt das nackte Skelett des Klaviers vom Boden auf und geht damit hinaus zu ihrem Truck. Der Psychologe steht vor dem zerstörten Klavier, streicht mit einem barmherzigen Blick darüber. Er blickt in die Höhle des Korpus, die ausgeraubt ist und entweiht wie das Grab eines Pharaos. Unzählige Empfindungen wühlen ihn auf, doch er kann sie weder benennen noch ordnen. Der Klavierstimmer kommt ins Haus zurück und wischt sich mit einem schmutzigen Lappen über die Stirn. Sein Sohn bleibt im Truck sitzen, mit verwirrtem und gelangweiltem Blick auf den Beifahrersitz gekauert.
    »Wow«, seufzt der Psychologe.
    »Haben Sie einen Sauger?«, fragt der Klavierstimmer.
    »Sauger? Oh, einen Staubsauger, ja.« Er geht in die Küche und zieht beim Zurückkommen einen dickbäuchigen Staubsauger hinter sich her. Der Klavierstimmer nimmt die Saugdüse, führt sie in die Höhle des Klavierbauchs ein, schiebt und stößt sie in dem klanglosen Leichnam hin und her. Endlich hört er damit auf, stellt den Staubsauger ab, wischt sich die Brauen, bringt die vorderen Abdeckbretter wieder an und murmelt in seiner Geheimsprache etwas vor sich hin. Dann wendet er sich an den Psychologen. »Das Geld«, sagt er und reibt Daumen und Zeigefinger gegeneinander.
    »Ah, ja, natürlich.« Der Psychologe geht in sein Schlafzimmer und kehrt mit einem Umschlag voller Bargeld zurück. Der
Klavierstimmer zählt sorgfältig nach und summt dabei eine unbekannte pentatonische Melodie vor sich hin. Er zuckt die Schultern, steckt das Geld in die Tasche, nimmt die eingewickelten Klaviertasten und sagt: »In drei Wochen bin ich wieder da. Haben Sie Geduld.«
    Der Psychologe nickt, und sein Blick folgt dem Klavierstimmer, als er das Haus verlässt.

34
    W as bedeutet es, präzise zu sein? Diese Frage geht dem Psychologen an diesem Abend durch den Kopf, als er zu Hause in seinem kleinen Arbeitszimmer sitzt, wo er seine Vorlesungen vorbereitet. Ähnelt der Therapeut einem klassischen Musiker, der sich darauf konzentriert, welche Noten auf dem Blatt stehen, und versucht, den Geist des Stücks zu erfassen, so wie der Komponist es im Sinn hatte? Oder sollte man ihn eher mit einem Jazzmusiker vergleichen, der es in erster Linie auf spontanen, unmittelbaren persönlichen Ausdruck abgesehen hat? Eine schwarze Schreibtischlampe leuchtet auf seinem alten hölzernen Schreibtisch. Seine Zehen wühlen sich in den Teppich. Wo sind deine Füße in diesem Moment?, fragt er gerne seine Klienten, wenn er sie bei ihren Übungen zu einer korrekten Atem-und Körperwahrnehmung anleitet. Vielleicht ist Präzision etwas Ähnliches wie eine akkurate Bewegung, wie das Anspitzen eines Bleistifts – wer auf einer perfekten Spitze besteht, wird ihn immer weiter anspitzen, bis der Bleistift völlig verschwunden ist. Einstein sagte: Mache alles so einfach wie möglich, aber nicht einfacher. Vielleicht wird der Versuch, präzise zu sein, klar zu sehen jenseits einer schmalen, unbestimmbaren Linie zu einem vergeblichen Bemühen. Und wenn dem so ist, was ist dann noch übrig? Was existiert in der Lücke zwischen möglichem und vollkommenem Wissen? Diese Frage löst sich langsam in seinen Gedanken auf und stellt ihn zufrieden. Er steht auf und geht in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen.

    Es klingelt. Der Psychologe richtet sich überrascht auf. Wer kommt um diese Zeit hierher? Er geht zur Tür, öffnet sie und sieht seine Vier-Uhr-Klientin dort stehen. Die Haare stehen ihr zu Berge; sie zittert, hat die Arme um den Oberkörper geschlungen und reibt sich die Schultern. Hinter ihr strömt wütend der Regen herab und trommelt auf das schadhafte Pflaster. Ihr Make-up ist verschmiert. Hohe Absätze. Er nimmt dieses Bild mit einem Blick in sich auf, während sie dort stehen und einen Moment lang kein Wort sagen.
    »Was führt Sie um diese Zeit hierher?«, fragt er schließlich, merkwürdig ruhig in Anbetracht der Uhrzeit und der Tatsache, dass seine Klientin die Regeln gebrochen und ihn zu Hause aufgespürt hat.
    »Ich weiß es nicht«, murmelt sie, »und wir sind nicht in der Praxis, deshalb kann ich das sagen.«
    Er

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