Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
eigentlichen Aufgabe zuwenden. « Er macht eine Bewegung in Erics Richtung. »Was ist unsere eigentliche Aufgabe?«
»Interpretatorischer Überschwang«, platzt Jennifer dazwischen.
»Ja. Der junge Psychologe, wie ich schon sagte, fühlt sich unter Druck, denn er spürt die Erwartungen des Klienten; er muss sein Honorar rechtfertigen und seine langen Ausbildungs- und Studienjahre. Aus diesem Grund versucht er, dem nichts ahnenden Klienten eins mit dem Interpretationshammer über den Kopf zu geben. Hier ist noch ein Beispiel: Eine junge
Klientin sitzt vor Ihnen und erzählt Ihnen ihre Geschichte, und beim Sprechen hält sie sich immer wieder die Hand vor den Mund. Was bedeutet diese Geste?« Er sieht sich um. »Wer ist für Überschwang? Wer für Interpretation?«
»Die Freudianer werden sagen, sie hat auf einer unbewussten Ebene Angst davor, inkriminierende Informationen preiszugeben«, sagt Jennifer. »Sie leistet Widerstand; sie ist ambivalent.«
»Ja; und was werden die Kognitivisten sagen?«
»Sie werden sie fragen, was sie sich selbst erzählt, was sie denkt.«
»Ja, und die Behavioristen?«
»Eine angelernte Gewohnheit«, antwortet Jennifer, »vielleicht hat sie früher beim Sprechen gespuckt und wurde deswegen ausgelacht und hat daher gelernt, ihren Mund zu bedecken. «
»Wirklich eine hübsche Anwendung des behavioristischen Credos. Jemand hier hört zu. Halleluja, Jennifer; Sie haben mein müdes altes Herz erwärmt. Und à propos Herz, was werden die Humanisten sagen?«
»Ah, da bin ich mir nicht sicher; ich verstehe sie nicht besonders gut.«
»Nein, natürlich nicht«, sagt der Psychologe lächelnd. »Niemand versteht die Humanisten, und das schließt die Humanisten selbst mit ein. Sie sind schwer unter einen Hut zu bringen. Für sie ist der Versuch einer Zusammenfassung an sich schon ein pompöser Versuch zur Vereinfachung, der der Subtilität und dem Nuancenreichtum der existenziellen Erfahrung widerspricht. « Er geht auf Jennifer zu. »Und was sagen Sie? Wie würden Sie diese Geste der Klientin interpretieren?«
Sie zögert. »Ich weiß noch nicht genug.«
»Vielleicht hat sie zum Mittagessen Zwiebelsuppe gegessen«,
Eric in der hinteren Reihe wacht auf, »und ihr Atem riecht danach, deshalb bedeckt sie ihren Mund.«
»Nett«, sagt der Psychologe. »Unser Freund Eric verweigert sich dem Diktat der Theorie; er weigert sich, in die Falle zu tappen, und das ist wichtig; außer natürlich er tut es, weil er die Theorie nicht kennt, weil er dazu neigt, während der Vorlesungen einzunicken …«
»Autsch«, sagt Eric und hält sich die Hand auf die Brust, »das hat wehgetan, Professor.«
»Sie sind ein robustes Exemplar«, sagt der Psychologe, »Sie werden es überleben, daran habe ich keinen Zweifel. Doch wir wollen uns wieder unserem Thema zuwenden. Worin besteht dann unser nächster Zug? Wem sollen wir vertrauen, Freud oder Eric?«
»Freud«, sagt Jennifer.
»Mir«, sagt Eric.
Das pinkhaarige Mädchen nickt zustimmend.
Nathan hebt langsam die Hand. »Mit Ihrer Erlaubnis, Professor, und mit allem nötigem Respekt werde ich beide Optionen ablehnen. Beide sind gewöhnliche Sterbliche, verlorene Schafe. Ich werde einzig und allein meinem Herrn und Erlöser vertrauen …«
»Weder Freud noch Eric, darin stimme ich Ihnen zu«, sagt der Psychologe, »wenn auch aus anderen Gründen. Sie weisen meine beiden Alternativen zurück aus einem Gefühl der Sicherheit, das dem Glauben entspringt und nichts braucht als den Glauben, um bewahrt zu werden. Auch ich weise Freud und Eric zurück, aber ich tue es aus einem Gefühl mangelnder Gewissheit heraus. Wie kommt das? Eric?«
»Ich weiß es nicht. Aber autsch.«
»Sehr witzig. Wie kommt das, Jennifer?«
»Ahh, Beweise?«
»Beweise?«
»Sie sagen immer, wissenschaftliche Kenntnisse basieren auf Beweisen. Sie sagen, wir müssen die Banane reifen lassen, selbst wenn wir Hunger haben; denn wenn wir sie zu früh pflücken, werden wir sie ohnehin nicht essen können.«
»Und was meine ich, wenn ich das sage?«
»Ah, Sie wollen, dass ich Ihnen erkläre, was Sie meinen?«
»Ist es nicht Auftrag des Psychologen, anderen ihre Absichten zu erklären?«
»Sie meinen damit, dass es falsch ist, übereilte Schlüsse zu ziehen; wir müssen abwarten, nach konvergierenden Beweisen Ausschau halten und nach Mustern suchen, nicht nach Anekdoten …«
»Gut gemacht, Jennifer. Ein guter Psychologe muss den Klienten mit einem Seil ausstatten, das lang genug ist,
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