Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist
wartet ab.
»Sie sagten, Sie würden mir helfen«, murmelt sie.
»Ich helfe Ihnen professionell, nicht als Privatperson.«
Ihr flehender Blick schält eine Schicht von dem Hochmut ab, die seine Antwort umgeben hat, und legt, denkt er, als Kern einen schweren Irrtum bloß.
»Er weiß von Michelle.«
»Er? Wer?«
»Bora. Er weiß Bescheid über meine Tochter. Er hat mich bedroht.«
»Sie müssen zur Polizei gehen.«
»Die Polizei«, lacht sie verächtlich auf, »und was soll ich denen erzählen? Dass er ein Video von mir hat, auf dem ich hinter der Bühne jemandem einen blase, und dass er es dem Richter gibt, wenn ich nicht zurückkomme, um zu tanzen; und der Richter wird sagen, sie ist als Mutter ungeeignet?
Die Polizei …« Sie seufzt und wirft eine Haarlocke aus der Stirn. »Ich halte es nicht mehr aus«, sagt sie weinend. »Wie viel mehr noch …« Sie hustet, und er riecht den Alkohol in ihrem Atem.
»Sie haben Angst«, sagt er. »Sie sind verwirrt und frustriert. Das sehe ich. Sie sind in einer schwierigen Situation. Aber Sie waren auch früher schon in schwierigen Situationen, und Sie haben sie gemeistert. Und Sie werden auch diese meistern. Auch dies wird vorübergehen. Wir können das alles in einer Sitzung verarbeiten. Denken Sie daran, sich etwas anzutun?«
»Ich reibe Männern durch die Hose die Schwänze«, sagt sie kalt. »Sieht das für Sie nach Selbstliebe aus?«
»Denken Sie an Selbstmord?«
Sie schweigt einen Augenblick. »Ja.«
»Haben Sie die Absicht, sich umzubringen?«
»Nein, ich werde mein Kind nicht als Waise zurücklassen.«
»Haben Sie je einen Selbstmordversuch unternommen?«
»Nein.«
»Haben Sie zu Hause eine Waffe, einen Haufen Pillen?
»Nein, nein.«
»Halten Sie bis morgen durch? Wir können uns um vier Uhr treffen, eine Notfallsitzung.«
»Ja«, flüstert sie.
»Ich sehe Sie dann morgen um vier«, sagt er, und seine Stimme wird unwillkürlich lauter.
Sie weicht langsam zurück, ohne sich umzudrehen, schwankt auf ihren hohen Absätzen. Er beobachtet sie von seiner Haustür aus. Sie dreht sich um und geht davon. Er tritt auf die Veranda. Der Wind fährt in die Bäume, peitscht die abgestorbenen Blätter. Er sieht, wie sie die Straße hinuntergeht. Wo ist ihr Auto?, fragt er sich. Wie ist sie hierhergekommen? Wohin geht sie? Er
überlegt, ob er ihr nachgehen soll, entscheidet sich aber nach einiger Überlegung dagegen.
Er kehrt in die Küche zurück. Sein Tee ist kalt. Er stellt die Tasse in die Mikrowelle und wartet. Er beugt sich mit gesenktem Kopf über die Arbeitsfläche. Es ist nicht das erste Mal, dass ein außer sich geratener Klient bei ihm auf der Schwelle steht, aber es ist viele Jahre her, seit es zum letzten Mal passiert ist. Tatsächlich ist es nicht mehr passiert, seit er aufgehört hat, Klienten mit Borderlinestörungen zu behandeln, und sich stattdessen Klienten mit Angsterkrankungen zugewandt hat; eine Richtungsänderung, für die er sich entschieden hat, da die Frage nach der Angst die elementarste Frage ist – an dieser Stelle, denkt er, hatte Freud recht –, und auch, weil Angstklienten gewöhnlich weder an Psychosen noch an Dummheit leiden, zwei Befindlichkeiten, die die Wissenschaft noch zu lösen hatte. Angstklienten halten sich an Grenzen und beachten die Spielregeln, und gewöhnlich geht es ihnen bereits nach kurzer Zeit besser. Und darin liegt eine gewisse Befriedigung. Die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen neigt andererseits dazu, sich unendlich in die Länge zu ziehen. Jede Woche bringt eine neue Krise, die die vorangegangene sowohl ersetzt als auch kompliziert. Und tief im Innern glauben persönlichkeitsgestörte Klienten, dass ihnen nichts fehle; dass die Ursache für ihr Problem in der gemeinen, chaotischen oder gleichgültigen Welt zu suchen sei – bei den Ämtern, den Nachbarn, Familienmitgliedern.
Dieser Überraschungsbesuch seiner Vier-Uhr-Klientin beunruhigt ihn. Bevor er schlafen geht, läuft er durchs Haus, schließt die Türen ab und zieht die Vorhänge zu. Irgendetwas an Tiffanys Blick, ihrem Schritt, ist durch seinen Panzer gedrungen. Er hat sich professionell und moralisch korrekt verhalten,
dessen ist er sich so gut wie sicher, doch der Anblick ihrer im strömenden Regen verschwindenden, schwankenden Gestalt hat ihn erschüttert.
Die Fensterläden klappern in seinen Traum. Er wacht sofort auf und starrt an die Decke. Draußen fegt der Wind durch die menschenleere Straße und verwirbelt die kahlen Baumkronen.
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