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Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist

Titel: Der gute Psychologe - Shpancer, N: Der gute Psychologe - The good Psychologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noam Shpancer
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Töne an. Sein Gesicht verzieht sich verächtlich. Er wendet sich an den Psychologen. »Wo haben Sie denn dieses Klavier aufgegabelt?«, fragt er in scharfem, ungeduldigem Ton, »auf der Straße?«
    »Um die Wahrheit zu sagen, ja«, antwortet der Psychologe.
    Auf dem gequälten Gesicht des Asiaten zeichnet sich eine gewisse Überraschung ab. Er nickt langsam. »Nutzloser Schrott«, fällt er sein Urteil. »Sie sollten dafür kein Geld zum Fenster hinauswerfen. «
    »Wie viel kostet es mich, es in einen spielbaren Zustand zu bringen?«, beharrt der Psychologe höflich.
    Der Klavierstimmer starrt ihn so lange mit kalter Verachtung an, bis es ihm peinlich wird. »Es wird billiger für Sie, wenn Sie einen Lastwagen holen und es auf den Schrottplatz fahren«, sagt er entschieden. Er nimmt das Brett ab, das Hämmer und Saiten des Klaviers bedeckt, sieht hinein, greift mit der Hand hinein, um etwas zu ertasten, bohrt mit dem Finger und zieht
ihn unter Schmerzenslauten zurück, saugt daran und flucht in einer unbekannten Sprache. »Für wen? Wer soll auf diesem Klavier spielen? Haben Sie Kinder?«
    »Nein, nicht für Kinder. Für mich«, sagt der Psychologe.
    »Sie spielen?« Der Asiate misst ihn von Kopf bis Fuß mit Blicken, dann sieht er sich entnervt um. »Mit dem Geld, das Sie ausgeben müssen, um es in Ordnung zu bringen, können Sie sich ein neues Klavier kaufen, oder ein fast neues. Dieses hier ist hundert Jahre alt, und sogar vor hundert Jahren war es nicht besonders gut.«
    »Ich möchte dieses Klavier stimmen lassen«, sagt der Psychologe ruhig.
    Der Klavierstimmer seufzt. »Wenn Sie darauf bestehen. Achthundert Dollar, und ich mache es spielbereit. Mehr kann ich nicht versprechen. Aber ich werde es zum Spielen bringen wie ein Klavier.«
    »Einverstanden«, sagt der Psychologe.
    »Die Hälfte des Geldes jetzt, die andere Hälfte, wenn die Arbeit erledigt ist«, sagt der Klavierstimmer.
    »Ich stelle Ihnen einen Scheck aus«, sagt der Psychologe.
    »Bar«, sagt der Klavierstimmer.
    »Bar«, sagt der Psychologe und nickt.
    Der Klavierstimmer macht seinem Sohn, der die ganze Zeit an die Wand gelehnt dastand, die Kopfhörer auf den Ohren, ein Zeichen. Der Sohn richtet sich auf; sein Blick ist wütend und traurig. Er legt seinen Kopfhörer zusammen und steckt ihn in seine Jackentasche. Der Vater entfernt das vordere Abdeckbrett und betrachtet die Tasten im Innern. Er bellt in seiner geheimnisvollen Sprache Befehle. Er geht in die Hocke, bückt sich und nimmt das untere Abdeckbrett ab. Er hantiert hinter den Pedalen herum und wischt dicke Spinnweben beiseite.
Er nimmt einen riesigen Schraubenzieher und einen schweren Hammer aus seiner Werkzeugkiste, rückt dem Instrument zu Leibe und führt beides wie eine Hebamme in die Eingeweide des Klaviers ein. Ein Quietschen und Stöhnen ertönt. Der Psychologe erschaudert einen Moment, doch dann spürt er, wie eine merkwürdige Erregung von ihm Besitz ergreift. Dort drinnen dreht sich irgendeine uralte Schraube, zögernd und widerstrebend. Der Klavierstimmer steht auf und ruft seinen Sohn zu sich. Mit verdächtiger Erregung deutet er auf irgendeine Stelle im Innern des Klaviers und bricht in Gelächter aus, und es ist klar, dass er dort drinnen etwas sieht, dem sein Sohn sich verweigert oder das er nicht zu sehen vermag. Der Klavierstimmer bellt seine Befehle, und der Junge, schlapp und linkisch, dreht sich um und geht zum Wagen hinaus, um sie auszuführen; sein Vater sieht ihm kopfschüttelnd nach. Der Junge kommt zurück und bringt diverse geheimnisvolle Werkzeuge mit, eine riesige Pinzette und ein zerbeultes Ölkännchen. Der Klavierstimmer erteilt Befehle, und der Junge reicht ihm wie ein chirurgischer Assistent ein Werkzeug nach dem anderen. Das Klavier erwacht jäh zum Leben und gibt ein lautes Stöhnen von sich, ein Kreischen und Rasseln. Der Klavierstimmer beugt sich darüber, verschwitzt und ernst. Er holt tief Luft, und der Psychologe spürt, dass der entscheidende Moment gekommen ist. Auch das Klavier muss das gespürt haben, denn es beginnt zu murren und mit einem zornigen Hallen Protest einzulegen. Der Klavierstimmer beißt sich auf die Lippen, beugt sich vor, dann ein plötzlicher Stoß, ein Ziehen und Rucken, und die Eingeweide des Klaviers werden alle auf einmal herausgezogen, wie ein Skelett aus dem Innern eines Körpers. Der Psychologe beobachtet es staunend, sieht den hohlen Korpus und dann den Klavierstimmer an, der sich bereits über die verschimmelten
Tasten

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