Der Händler der verfluchten Bücher (German Edition)
Betteln und kleinen Diebstählen. Bis ich eines Tages auf eine große Gruppe Kinder stieß. Sie zogen durchs Land wie ein Heer, schwenkten Banner und Fahnen mit christlichen Symbolen. Die meisten von ihnen waren Hirtenkinder aus der Île-de-France und dem Rheinland. Sie sagten, sie seien von Gott auserwählt, das ›Wahre Kreuz‹ zu finden. Mir kamen sie etwas verwirrt vor, aber ich dachte, wenn ich mich ihnen anschlösse, bekäme ich wenigstens regelmäßig zu essen, daher sagte ich mir: ›Was hast du schon zu verlieren?‹ Ich wurde also einer von ihnen. Man musste beim Marschieren einfach nur singen und beten, und wenn jemand behauptete, er würde im Himmel ein leuchtendes Kreuz sehen, dann durfte man nicht widersprechen, sondern musste sagen, dass man es auch sehe. Und dann kamen stets andere hinzu, glühend vor Begeisterung wie Propheten, und riefen: ›Es stimmt! Da ist es, so wahr es einen Gott gibt, ich sehe es!‹ Keiner konnte allerdings jemals genau sagen, wo sich dieses Kreuz nun genau befand: ob mehr rechts oder links, im Sonnenlicht oder doch eher über einer Wolke … Im Grunde hielt ich es für ein Spiel. Und ich glaubte, es würde mir zumindest dabei helfen, mein Unglück zu vergessen. Erst später erfuhr ich durch Ignazio, dass ich an dem sogenannten Kinderkreuzzug teilgenommen hatte.«
»Ich habe das immer für eine Legende gehalten.«
»Nein, es gab ihn wirklich«, versicherte der Franzose. »Wir hatten vor, ans Meer zu gelangen und ins Heilige Land überzusetzen. Dort, so hieß es, würden wir das Wahre Kreuz finden. Als wir Marseille erreichten, trennten sich einige von der Gruppe und kehrten nach Hause zurück. Ich hatte jedoch kein Heim mehr, deshalb folgte ich den Wagemutigeren und bestieg ein Schiff aus Marseille. Wir waren so viele, dass wir sieben Segelschiffe brauchten. Während der Reise wurden die Schiffe jedoch voneinander getrennt, und es hieß, zwei von ihnen seien gesunken. Ich sollte leider erst zu spät herausfinden, dass die Reeder aus Marseille uns hintergangen hatten: Als wir in Alexandria anlegten, verkauften sie uns als Sklaven an die Mauren.«
»Aber das ist ja schrecklich!«
»Es gibt schlimmere Schicksale.« Willalme verzog die Lippen zu einem bitteren Lächeln. »Ich traf es nicht einmal schlecht. Zunächst wurde ich von einem Herrn zum nächsten weitergereicht, bis ich als Schiffsjunge auf einem Boot arabischer Piraten landete, die mit großer Lust die Schiffe der Kreuzfahrer überfielen. So wurde ich im Laufe der Jahre zu einem Pirat und entdeckte, dass ich gut mit Schwert und Messer umgehen konnte. Ein Teil von mir fand richtiggehend Gefallen daran, denn so konnte ich mich an den Kreuzrittern rächen, die meine Familie im Namen von Betrug und Habgier niedergemetzelt hatten.«
»Dein Leben ist bislang reich an Abenteuern gewesen«, stellte Uberto fest, »aber auch an Einsamkeit.«
»Ich bedauere nur eins, nämlich dass ich ohnmächtig zusehen musste, wie meine Familie ermordet wurde. Ich würde alles dafür geben, um dieses Unrecht ungeschehen zu machen.«
Uberto hätte ihn gern mit einem freundlichen Wort getröstet und ihn gefragt, wie er den Händler aus Toledo kennengelernt hatte, aber in dem Moment stieß Ignazio zu ihnen.
»Es wird dunkel«, sagte er. »Wir sollten besser schlafen gehen.«
»Beunruhigt dich etwas?«, fragte Willalme.
»In den letzten Tagen sind uns auf unserem Weg viele Soldaten begegnet, die nach Toulouse wollten. Das gefällt mir nicht. Der Wirt sagt, dass alle Anzeichen auf Krieg hinweisen.«
36
Das Licht der Morgendämmerung breitete sich über den Ansiedlungen vor Toulouse aus und glitt über die Stadtmauern und die schlafenden Dächer hinweg. Die Helme der Wachposten hinter den Zinnen warfen die ersten Sonnenstrahlen zurück, während die an den Wällen postierten Soldaten die Kriegsgeräte luden und angespannt über den Graben spähten. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
Während der Nacht war Slawnik durch einen Geheimgang unter der Stadtmauer hindurch nach Toulouse gelangt. Nur wenige kannten diesen Weg.
In den Tagen zuvor hatte er die verlorene Zeit wieder eingeholt. Von Genua aus hatte er sich nach Narbonne eingeschifft, dann war er flussaufwärts ins Languedoc vorgedrungen, und nun, an seinem Bestimmungsort, bewegte er sich wie ein Geist durch die schlafende Stadt. Hinter ihm liefen die beiden Schergen, die er in der Pilgerherberge der Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem angeheuert hatte.
»Wir sind da«, verkündete
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