Der Hahn ist tot
Jogginganzug, den ich sonst nie anzog. Also her damit, Hund angeleint, Treppe wieder runter, rein ins Auto und losgefahren!
Mit Herzklopfen sah ich die Doppeltürme der St. GallusKirche in Ladenburg auftauchen. Ich bog in der Weinheimer Straße ab und parkte schließlich in der Trajan-Straße, das war nicht in unmittelbarer Nähe seines Hauses, sondern mindestens drei Blocks weiter. Dann stieg ich aus, ließ den Spaniel am Straßenrand schnüffeln und machte einen unauffälligen Hundespaziergang. Die Gegend, in der Witold wohnte, war jedenfalls sehr schön: bäuerliche Häuser, mäßig und zum Glück nicht gar so geleckt renoviert wie in der Altstadt. In der bewußten Straße standen Neubauten, und fast an ihrem Ende die Nummer 29, mit wildem Wein bewachsen. Natürlich konnte ich nicht einfach stehenbleiben und dieses Haus inspizieren. Es war noch hell; ich ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hatte das Einfamilienhaus scharf im Blick. Kein Licht, es sah ein wenig verlassen aus, aber ein Auto stand vor der Tür. Mir klopfte mein verwegenes Herz immer weiter, als ob ich eine tollkühne Tat vollbringen würde. Ich ging das kurze Stück bis ans Ende der Straße und kehrte dann um. Auf der anderen Straßenseite - also seiner! - trat ich den Rückweg an und sah das Haus jetzt noch einmal aus einer neuen Perspektive. Fingerhut und Malven im Vorgarten, hinterm Haus ein leicht verwilderter Obstgarten. Das Nachbargrundstück war unbebaut. Ich ließ den Hund frei und erlaubte ihm, auf diesem Stück voller Brennesseln und Goldraute ein bißchen herumzustöbern. So konnte ich kurz stehenbleiben.
Der Hund wollte aber gar nicht mehr lange trödeln, also zogen wir gemeinsam Leine.
Ich war immer noch ziemlich aufgeregt. Die übernächste Straße mußten wir überqueren. Weil es eine stille, feierabendfriedliche Gegend war, paßte ich nicht sonderlich auf. Eine Fahrradklingel schreckte mich aus meinen Träumen.
Mir stockte der Atem. Witold! Ich wäre fast in sein Fahrrad gelaufen. Er bremste, sah mich an und lächelte. Ich lächelte zurück, völlig verwirrt und wieder mit diesem Dröhnen in den Ohren. Er hatte wohl so etwas gesagt wie »Aufpassen!«, dann war er schon wieder weg. Er hatte mich angesehen! Angelächelt! Ich war selig wie ein Kleinkind. Singend fuhr ich heim, umarmte den Hund, küßte ihn, legte mich ins Bett und tat kein Auge zu. Die ganze Nacht über sah mich Witold an, auf dem Fahrrad sitzend, lässig in Jeans und rotem Pullover, lächelnd.
Am nächsten Abend machte ich wieder die gleiche Tour zur gleichen Zeit, doch in vorteilhafteren Kleidern. Im Haus waren diesmal die Fenster im oberen Stock geöffnet, ich hörte schwach ein Radio. Nun, ich hatte Geduld; täglich konnte ich aufs neue versuchen, einen Blick und ein Lächeln zu erwischen. Vielleicht lief der Hund in seinen Garten, und ich mußte ihn einfangen, Witold stände mit einer Gartenschere vor einem duftenden Rosenstrauch, würde mir in die Augen blicken, lächeln, vielleicht ein wenig mit mir plaudern. Immer neue glückliche Möglichkeiten fielen mir ein.
Wieder ein Tag später. Ich hatte Frau Römer versprochen, sie heute im Krankenhaus zu besuchen. Inzwischen wußte ich, daß man ihr die rechte Brust abgenommen hatte, was mich tief bestürzte. Pünktlich hörte ich im Büro auf. In diesen Tagen saß ich in Frau Römers Zimmer, weil der Hund an den dortigen Platz unterm Schreibtisch gewöhnt war, geduldet vom Chef. Als er vor Jahren hier eingezogen war und sich immer mäuschenstill verhalten hatte, kam der Chef eines Tages herein, um sich leutselig nach dem Tier zu erkundigen Damals hieß der Hund noch Micki oder ähnlich ordinär. Als er den Chef vor dem Schreibtisch stehen sah, fing er mit samtener Stimme an zu heulen.
»Nanu«, wunderte sich der Chef, »du hast ja einen sehr gepflegten Bariton. Bist du ein tierischer Fischer-Dieskau?« Von da an hieß Micki nur noch der Dieskau.
Ich fuhr mit dem Dieskau direkt vom Büro ins Krankenhaus, kaufte unterwegs Blumen, ließ den Hund im Wagen und stieg die blanken Krankenhaustreppen hoch zu Frau Römer. Da lag sie, ein Drainageschlauch ragte aus ihrem Nachthemd heraus, aber sonst sah sie ziemlich aus wie immer. Sie fand alles nicht so schlimm.
»Wissen Sie, ich bin schon über sechzig, da definiert man sich nicht mehr so stark vom Körperlichen her. Wenn mit dieser Operation der Krebs wirklich weg ist, werde ich nie mehr ein Wort darüber verlieren.«
Sie fragte vor allem nach ihrem
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