Der Hahn ist tot
haben.«
Am nächsten Tag war Samstag. Ich trat in eine Mannheimer Buchhandlung, vorsichtshalber nicht in die, in der ch sonst meine Bücher kaufe, und fragte nach dem Autor Rainer Engstern. Die Buchhändlerin blätterte in ihrem dicken Katalog. Schließlich sagte sie, ja, den Autor Rainer Witold Engstern gebe es, und er hätte eine kleine Abhandlung über Malerei im vierzehnten Jahrhundert geschrieben, ob ich das Büchlein bestellen wolle. Das tat ich natürlich und konnte es am nächsten Dienstag abholen.
Inzwischen kam ich mir vor, als wäre ich wieder jung, nein geradezu pubertär geworden. Nur damals war ich so oft ins Phantasieren geraten und hatte derart unrealistische Wünsche gehabt. Wurde ich jetzt kindisch?
Das ganze Wochenende verbrachte ich mit Trödeln, Lächeln, Summen und vor dem Spiegel. Ob ich mich wirklich zu alt zurechtmachte? Ich beschloß, mir etwas Hinreißendes zu kaufen, eventuell ein duftiges Sommerkleid mit weit schwingendem Rock. Ich hatte eigentlich immer nur gerade Röcke, strenge Kostüme und Hosenanzüge besessen, vielleicht sollte ich auf romantisch-verspielt setzen? Ob ich meine Frisur, die seit dreißig Jahren ein Garçonne-Schnitt war, abschaffen sollte? Aber wofür eigentlich? Ich kannte diesen Mann ja noch gar nicht und er mich erst recht nicht. Sicher war er verheiratet, hatte Kinder und einen völlig anderen Bekanntenkreis als ich. Aber dieses Wahnsinnsgefühl, verliebt zu sein, hatte schon einen Wert an sich, denn ich hatte fest geglaubt, dazu nie mehr fähig zu sein.
Ich holte das bestellte Büchlein ab. Vielseitiger Mensch, dachte ich: Sein Vortrag hatte von romantischer Literatur gehandelt, in diesem Bändchen ging es dagegen um die reale Welt in der Malerei des vierzehnten Jahrhunderts. Vielseitig - oder neigte er zum Verzetteln? Hinten auf der Umschlagklappe war eine Kurzbiographie des Autors mit Foto. Toller Mann, dachte ich ohne Unterlaß. Er war drei Jahre jünger als ich, verheiratet, Lehrer, lebte in der Nähe von Heidelberg. Studiert hatte er Germanistik, Kunstgeschichte und Französisch.
Ich las die Broschüre zweimal. Der Verlag war mir unbekannt, die Auflage klein. Den Text fand ich gescheit, aber nicht wissenschaftlich, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte. Wie schon erwähnt, interessiere ich mich nicht für Kunst, aber diese abgebildeten Pantoffeln, Leuchter, Stoffe und Gebäude waren eigentlich für jeden attraktiv anzusehen und die Ausführungen über den kulturellen Hintergrund interessant zu lesen. Sicher ein exzellenter Lehrer!
Frau Römer riß mich aus meinen Träumen. Sie war zur Vorsorgeuntersuchung gegangen und mußte schon in der nächsten Woche ins Krankenhaus, Verdacht auf Brustkrebs. Sie war gefaßt und tapfer. Flehend sah sie mich an: Ich wußte schon, es ging um den Hund. Natürlich wäre ich sehr egoistisch gewesen, wenn ich ihr nicht sofort angeboten hätte, den Vierbeiner während ihres Krankenhausaufenthaltes aufzunehmen. Ich log sogar und behauptete, mich auf ihn zu freuen, da er mir die einsamen Stunden vertreiben würde. Im nachhinein stelle ich fest, daß vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn ich damals nicht Frau Römers Spaniel gehütet hätte.
Wenn ich sonst vom Büro nach Hause komme, habe ich eigentlich keine Motivation, noch mal die Wohnung zu verlassen. Ich bade, ziehe mir einen Morgenrock an, wasche oder bügle vielleicht, mache mir ein Brot und lege mich vor den Fernseher. Nicht besonders aufregend, aber die meisten Menschen machen es wohl genauso. Der Hund war damit aber nicht zufrieden. Zwar wollte er auch heim, um zu fressen und zu saufen - schließlich hatte er ebenfalls den Tag im Büro verbracht -, aber dann meinte er wohl, ein Gewohnheitsrecht auf einen Spaziergang zu haben. Wenn er übers Wochenende bei mir war, ging ich regelmäßig mittags in den Park, am Abend hatte ich dazu wenig Lust. Nun kam mir ein abenteuerlicher Gedanke. Ich wälzte das Telefonbuch. Wo wohnte mein Rainer Witold Engstern? Oder sollte ich ihn nur Witold nennen? Ich blätterte anfangs vergeblich, doch schließlich wurde ich fündig. R. Engstern, Ladenburg - da hatten wir ihn ja. Mein Gott, das war jetzt ohne Berufsverkehr in einer Viertelstunde mit dem Auto zu erreichen. Ich fand sogar eine Ladenburger Straßenkarte und entdeckte schließlich auch seine Straße, etwas außerhalb der Altstadt. Der Hund sah mich fragend an. Ich fühlte mich jung und abenteuerlustig. Von meiner letzten Kur in Bad Saßbach besaß ich einen
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