Der Hahn ist tot
Witold hatte Cordhosen an, heruntergetretene schwarze HongkongStoffschlappen, eine grüne Strickjacke mit fehlendem Knopf und durchlöcherten Ellbogen. Bei mir kann ich solche Schlampereien nicht ausstehen. Fehlende Knöpfe werden sofort angenäht, zerrissene Pullover kommen in den Rotkreuzsack. Seine Frau war wohl nicht so penibel. Im übrigen, wo war sie überhaupt? Im Wohnzimmer war es reichlich unordentlich, eine heruntergerutschte Wolldecke neben dem Sofa, eine vertrocknete Azalee auf der Fensterbank, volle Aschenbecher, Zeitungshaufen. Entweder war die Hausfrau eine Schlampe oder verreist oder krank, oder sie war beruflich total überfordert. Ich hoffte, sie wäre überhaupt nicht vorhanden.
Witold schrieb und schrieb. Dazwischen nahm er die Halbbrille ab, rauchte zuweilen eine Zigarette, ging auch manchmal auf und ab. Einmal klingelte das Telefon. Er sprach mit aufgeregtem, ja bösem Gesicht, knallte plötzlich den Hörer auf die Gabel und steckte sich sofort eine neue Zigarette an. Danach nahm er die Schreibarbeit nicht mehr auf, sondern tigerte im Zimmer herum wie im Zwinger. Dann rief er seinerseits jemanden an, sprach lange, schwieg, redete wieder lange und hörte sehr abrupt auf. Als er das Zimmer verließ, kroch ich aus dem Labyrinth der Bäume heraus und fiel dabei fast über einen abgebrochenen Ast. Es gewitterte. Ich machte mich endlich auf den Heimweg; es war spät, und ich war ganz durcheinander.
Ich nahm in diesen Tagen ab, obgleich ich das schon lange nicht mehr nötig hatte, ich schlief schlecht, hatte bläuliche Ringe und, wie ich fand, viel mehr Falten unter den Augen, mich quälten Wallungen, von denen ich bisher verschont geblieben war. Im Büro saß ich unkonzentriert vor meiner Arbeit, machte keine Überstunden mehr und hatte Mühe mit Formulierungen. Dem Chef entging das nicht. Freundlich stellte er fest, die Krankheit von Frau Römer gehe mir wohl sehr nahe.
»Sie sind ein vorzüglicher Psychologe«, sagte ich so herzlich, wie ich konnte, und er lächelte geschmeichelt.
Am Wochenende ging ich mit Beate einkaufen. Sie sollte mich beraten. Das wurde allerdings schwierig. Am Ende hatte sie zwei schillernde Blusen bei C&A gekauft, ein Babyjäckchen fürs drohende Enkelkind, einen Hosenrock im Ausverkauf und merkwürdige Schnabel schuhe. Ich hatte ein veilchenblaugeblümtes teures Sommerkleid erstanden und gleich anbehalten, das einzige Stück, auf das wir uns hatten einigen können.
Auf der Straße trafen wir zwei Männer, Beate kannte ja Gott und die Welt. Anscheinend hatte ihr Mann früher einmal ein Haus für sie gebaut. Der eine war Graphiker, der andere Einkäufer für ein Kaufhaus. Wir gingen einen Espresso trinken, und Beate flirtete ungeniert mit den beiden. Überhaupt hatte ich den Eindruck, daß sie seit ihrer Scheidung nicht gerade wie eine Nonne lebte, aber sie erzählte mir nichts darüber, wahrscheinlich aus Taktgefühl. In meinem schönen Kleid, mit von Kaffee geröteten Wangen und dem neuen, überdrehten Gefühl im Bauch entdeckte ich auf einmal, daß ich durch bedeutungsvolles Lächeln, gurrendes Lachen und intensives Wimperngeklappere auch beachtet wurde. Mein Gott, warum
hatte ich das nicht dreißig Jahre früher kapiert.
Als die Männer weg waren, sagte Beate: »Das ist ein wahnsinnig nettes Paar, sie leben seit zehn Jahren zusammen. Mit denen läßt sich wunderbar quatschen. Übrigens habe ich neulich was über diesen Rainer Engstern gehört.«
Am liebsten hätte ich gebrüllt: »Warum sagst du mir das nicht gleich!« Und dann der Schreck: War er etwa schwul, weil Beate ihn in diesem Zusammenhang erwähnte? Ich hätte diese flirtfreudigen Männer niemals richtig einordnen können, darin hatte ich keine Erfahrung.
»Also, paß auf«, begann Beate, »die Lessi hat eine Freundin, die Eva, die ist mit einem Sohn vom Engstern befreundet.«
»Und wie ist er?« fragte ich sofort.
»Weiß nicht, wahrscheinlich ein netter Junge, macht gerade Zivildienst.«
»Also, ich meinte doch den Vater!«
»Ja, der ist Lehrer in Ladenburg (das habe ich auch schon rausgekriegt, dachte ich), die Schüler nennen ihn ENGSTIRN, aber er ist ganz beliebt, meint Lessi. Sie war nämlich mal dort.«
»Und die Mutter?« fragte ich.
»Ach ja«, bedeutete mir Beate, »irgend etwas stimmt da nicht, sie ist angeblich schon lange verreist.«
Mehr wagte ich nicht zu fragen, aber innerlich tat ich einen Freudensprung. Da stimmt was nicht! Ganz ausgezeichnet, dann war mein Witold vielleicht zu
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