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Der Hahn ist tot

Der Hahn ist tot

Titel: Der Hahn ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Dieskau und freute sich, daß ich ihr von tollen abendlichen Exkursionen erzählte, natürlich ohne zu sagen, wohin wir gingen.
    An diesem Tag wurde alles später. Ich war erst nach sieben zu Hause, wollte noch baden und essen und stand schließlich lange vor dem Kleiderschrank. Was sollte ich diesmal anziehen? Auf keinen Fall den Jogginganzug, der war mausgrau und langweilig. Ein Kostüm? Auch nicht, dann sah ich schon wieder wie eine korrekte Bürofrau aus. Schließlich zog ich eine weiße Hose an, einen dunkelblauen Pullover und flache Schuhe. Es war schon leicht dämmrig, und diesmal traf ich Witold in der Parallelstraße, jedoch nicht auf dem Rad. Er hastete an mir vorbei, sah mich nicht an, machte ein abwesendes Gesicht; offensichtlich wollte er noch mal ins Städtchen gehen. Das Auto stand vor seinem Haus, die Fenster waren geschlossen, nirgends Licht. Ich ging mit dem Dieskau wieder zu meinem Wagen. Als wir beide drin saßen, stieg ich kurz entschlossen von neuem aus und ließ den Hund allein zurück. Er hatte nie etwas dagegen, akzeptierte das Auto als Zweitbett.
    Ich ging zu Fuß in die Altstadt. Die Straßen waren naß, es mußte vor kurzem geregnet haben. Gut, daß ich bequeme Schuhe trug, das Kopfsteinpflaster war nichts für Stöckelschuhe. Witold mußte hier irgendwo sein, vielleicht in einer Kneipe. Sonst ging ich nie abends allein in Kneipen, ganz selten nur mit Bekannten. Ich war sehr unsicher. Die erste Wirtschaft war gut zu beobachten, man konnte von draußen durch die niedrigen, offenstehenden Fenster schauen, aber ich entdeckte ihn nicht.
    In eine zweite trat ich ein und sah mich suchend um. »Na, Mutter, kommst du deinen Ollen holen?« fragte mich ein angetrunkener Mensch. Ich ging sofort wieder und hatte keinen Mut mehr, die nächsten Lokale zu betreten. Endlich suchte ich mir eine Edelkneipe, setzte mich in eine Ecke und bestellte eine Weinschorle. Natürlich war er auch nicht hier. Ich bezahlte und bummelte über den Marktplatz, besah mir den Brunnen mit einer Marienstatue auf hoher Säule. Überall Stadtmauerreste; vor einer Schule - war es seine? - las ich: Um 90 nach Chr. errichteten römische Soldaten unweit der keltischen Siedlung Lopodunum ein Steinkastell.
    Vielleicht war Witold im Kino? Ich sah mir das Kinoprogramm an und überlegte, ob ich noch in eine Spätvorstellung gehen sollte. Dann betrachtete ich wieder Schaufenster, trödelte herum. In einem alten Fachwerkhaus wurde eine Hochzeit gefeiert, über dem Torbogen hing eine Wäscheleine voller Babykram.
    Als es dunkel war, ging ich noch einmal zu Witolds Haus. Im Erdgeschoß brannte jetzt Licht. Niemand war auf der Straße zu sehen, das ganze Viertel schien ziemlich ausgestorben, schließlich war Sommer und Urlaubszeit. Ich schlich über das Nachbargrundstück mit Kirsch- und Nußbäumen, bis ich Witolds Garten erreichte. Es war nicht schwer, den defekten Drahtzaun hochzuheben und ohne turnerische Anstrengung darunter durchzuschlüpfen. Allerdings war die weiße Hose nicht gut gewählt: Erstens wurde sie schmutzig, zweitens leuchtete sie vielleicht im Dunkeln.
    Die Blätter der Walnußbäume hoben sich schwarz gegen den dunklen Himmel ab. Hinter einem dicken Apfelbaum glaubte ich mich ganz gut getarnt. Mein Puls ratterte. Ich kam mir wie eine Einbrecherin vor, wie eine andere Person, die nichts mehr mit der korrekten Sachbearbeiterin zu tun hatte.
    Das Haus öffnete sich mit der Breitseite nach hinten zum Garten hin. Die Vorderseite war dagegen ziemlich verschlossen, wahrscheinlich lagen Flur, Klo und Küche nach vorn. Man sah durch eine große Glasschiebetür in ein erleuchtetes Wohnzimmer. Ein Schreibtisch war direkt an die Glasfront gerückt, eine Gestalt saß daran, wahrscheinlich Witold. Ich tastete mich sehr vorsichtig, sehr langsam, näher heran. Nasse Zweige wischten mir übers Gesicht, ein zertretenes Schneckenhaus knirschte unter meinen Füßen. Zum Glück standen die Obstbäume dicht und buschig um mich herum, der Lichtschein erreichte mich nicht. Nun konnte ich das Objekt meiner Sehnsucht gut erkennen. Es arbeitete am Schreibtisch. Schulhefte? Nein, es waren ja Ferien. Vielleicht ein neues Buch, ein Vortrag für die Volkshochschule, ein Brief. Er hielt immer mal wieder inne und blickte nachdenklich in den dunklen Garten hinaus - wie mir schien, geradezu in mein Gesicht. Aber sehen konnte er mich bestimmt nicht.
    Ich konnte mich von diesem Bild nicht lösen. Ich bin ein weiblicher Spanner! schoß es mir durch den Kopf.

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