Der Hahn ist tot
übernachtete er sehr wohl. Wenn seine Frau wieder einmal allein im Bett lag, wollte sie ihn wenigstens durch Telefongeklingel stören. Natürlich dachte sie, er wäre bei mir.
Ich habe mich in jenen Tagen gleichzeitig bei vielen Versicherungen in allen möglichen Städten beworben, aber es dauerte ein ganzes Jahr, bis es klappte. Mir war es einerlei, wohin ich kam, ich wollte nur weg und neu beginnen.
Als ich Mitte Dreißig war, zog ich nach Mannheim. Ich kannte weder die Stadt noch einen Menschen dort. Nach einem halben Jahr fiel mir allerdings ein, daß meine Schulfreundin Beate hier irgendwo in der Nähe, in einer Kleinstadt an der Bergstraße, leben müsse. Seit ich nach dem Abitur nach Berlin gezogen war, hatten wir uns aus den Augen verloren und in der ganzen Zeit nur einmal bei einem Klassentreffen gesehen.
In unserer Jugendzeit in Kassel wohnte Beate am Ende meiner Straße. Ob sie sonst meine Freundin geworden wäre, kann ich nicht sagen. Auf dem Schulweg kam ich zwangsweise an ihrem Haus vorbei. Dort blieb ich stehen und pfiff. Ich war immer sehr pünktlich, Beate dagegen gar nicht. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, sie durch mein Pfeifen erst geweckt zu haben. Ich mußte immer lange warten, bis sie endlich an der Haustür erschien, oft kam ich durch ihre Schuld zu spät. Aber nie ging ich allein, zwanghaft habe ich vor ihrem Haus gestanden. Beate hatte eine beste und eine zweitbeste Freundin, dann kamen mehrere Nebenfreundinnen, und zu denen gehörte ich. Ich dagegen hatte wahrscheinlich nur zwei oder drei von dieser letzten Sorte und überhaupt keine Busenfreundin.
Beate hatte einen Architekten geheiratet, viel mehr wußte ich nicht über ihr Schicksal. Als ich sie anrief, lud sie mich sofort zu einer Party ein, die in wenigen Tagen geplant war. Ich ging auch hin und sah das Familienglück: drei süße Kinder, ein gutaussehender charmanter Mann, ein wunderschönes Haus, eine strahlende Beate, die ein vorzügliches Essen für die vielen netten Leute gekocht hatte. Alles wie im Bilderbuch. Im Grunde war ich voller Animosität wegen so viel Sonnenschein. Ich fuhr in schlechter Laune und unversöhnlichem Neid nach Hause. Aber trotz allem habe ich Beate auch eingeladen, und wenn sie in Mannheim einkaufen ging, kam sie gelegentlich nach Ladenschluß auf einen Sprung vorbei. Oft war das nicht.
Dieses nicht sehr enge Verhältnis änderte sich schlagartig, als Beates heile Welt zehn Jahre später in die Brüche ging. Die süßen Kinder wurden schwierig und aufsässig, blieben sitzen, haschten, klauten, kamen nicht heim. Der charmante Mann hatte ein Verhältnis mit einer viel jüngeren Kollegin. Wie damals in meinem lang zurückliegenden Hartmut-Drama wurde diese Kollegin schließlich schwanger, er ließ sich scheiden und gründete eine neue Familie. Beate wurde depressiv und heulte mir wochenlang am Telefon und in natura die Ohren voll. Irgendwie fühlte sie sich von mir verstanden, und ich hatte auf einmal das gute Gefühl, helfen und trösten zu können. Seitdem erst wurden wir echte Freundinnen.
Übrigens war Beate nicht allzulange so ein Jammerlappen, das war nicht ihre Natur. Sie blieb auch nicht verbittert und menschenscheu, sondern kämpfte und arbeitete. Natürlich mußte sie aus dem Haus ausziehen, als die Kinder zum Studieren wegzogen. Es wurde verkauft. Beate bekam vorn Exmann eine Dreizimmereigentumswohnung und auch eine angemessene Versorgung. Sie wollte aber selbst Geld verdienen und fing mit vierundvierzig Jahren zum ersten Mal im Leben an, für ein Gehalt zu arbeiten. Natürlich war sie die Jahre zuvor auch nicht untätig gewesen, denn es hatte schon Fleiß und Organisationstalent gefordert, den großen Haushalt, die Geschäftsbuchführung und den überforderten Mann im Griff zu haben; im letzteren Fall war es ja auch nicht gelungen. Nun wurde Beate halbtags Sekretärin in der Volkshochschule, anfangs nur aushilfsweise. Nach zwei Jahren schmiß sie den Laden und ging ganz in ihrem neuen Beruf auf. Beate begeisterte sich für immer neue Kurse, an denen sie kostenlos teilnehmen konnte. Sie begann mit Töpfern und Seidenmalerei, fuhr fort mit Bauchtanz und transzendentaler Meditation, lernte Italienisch und diskutierte mit anderen Frauen über ihre Stellung in der Gesellschaft.
Außer von Beate bekam ich fast nie Besuch. Meine Wohnung war auch zu klein, um viele Leute aufzunehmen. Beate besuchte mich manchmal unangemeldet, und ich hatte auch nichts dagegen. Eine zweite Ausnahme war eine
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