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Der Hahn ist tot

Der Hahn ist tot

Titel: Der Hahn ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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einschlafen und nie mehr aufwachen.
    Kalter, miefiger Rauch schlug mir entgegen, ein Wadenkrampf fuhr mir ins rechte Bein, ein voller Aschenbecher und ein vom Stuhl gerutschter sandfarbener Pullover erinnerten mich an Witold, der noch vor einigen Stunden unversehrt hier gesessen hatte.
    Ich öffnete das Fenster, taumelte ins Schlafzimmer und warf mich angekleidet aufs Bett. Ein schwarzer Schatten schoß hervor und stürzte sich auf mich. Es war der verängstigte Dieskau, den ich am Abend nicht mehr ausgeführt hatte. Ins Bett gehen lohnte sich kaum. Ich müßte doch bald aufstehen und ins Büro gehen. Trotzdem blieb ich auf dem Bett liegen, kraulte den Hund an den Ohren und war zu keinen klaren Entschlüssen, geschweige denn Taten mehr fähig.
    Ich wollte krank sein, ich wollte im Krankenhaus in einem sterilen weißen Bett hegen, nur wildfremde Menschen sehen, mit niemand sprechen müssen. Keine Verantwortung mehr, keine Pflicht. Ich wünschte mir einen pflanzenhaften Zustand des Verdämmerns.
    Aber nach einer halben Stunde stand ich auf und ging unter die Dusche. Ich machte mich bürofein, räumte auf, trank etwas Tee und führte den Dieskau kurz auf den Grünstreifen. Mit der Zeitung in der Hand kam ich wieder nach oben, aber aus Erfahrung wußte ich, daß nächtliche Ereignisse nie am folgenden Morgen veröffentlicht werden, es sei denn, sie seien von weltweiter Bedeutung.
    Pünktlich wie stets verließ ich mit dem Hund die aufgeräumte Wohnung und fuhr ins Büro. Diesen Tag durchzustehen würde mir sicher besonders schwerfallen.
    Kurz vor der Mittagspause bekam ich einen Anruf von der Polizei, ich sollte mich für ein kurzes Gespräch in meinem Bürozimmer bereithalten. Diesmal kamen sie zu zweit, mit sehr ernstem Gesicht. Ob gestern ein Kollege, ein Kommissar Wernicke, bei mir angerufen habe oder sogar vorbeigekommen sei?
    Ich verneinte. Wo ich gewesen sei? Nach Büroschluß sei ich heimgefahren, unterwegs hätte ich allerdings noch etwas eingekauft. Zu Hause hätte ich nach einer kleinen Verschnaufpause gegen Abend einen Hundespaziergang gemacht. Ich wies auf den Dieskau unter meinem Schreibtisch, als ob er als Zeuge aussagen könne.
    Ob Herr Engstern mich angerufen oder besucht hätte?
    Ich verneinte abermals und sagte, ich hätte ihn zuletzt vor etwa zehn Tagen gesehen. Schließlich fragte ich, so energisch wie es mir noch möglich war, was diese Fragen bedeuteten.
    Der eine Polizist, jung und drahtig wie sein toter Kollege, seufzte tief auf. Er sprach abgehackt.
    »Morgen werden Sie es ohnehin in der Zeitung lesen. Letzte Nacht ist mein Freund Hermann Wernicke in seinem Wagen verbrannt.«
    »Wie ist das passiert?« fragte ich.
    »Wenn wir das so genau wüßten, wären wir nicht hier«, erklärte der zweite Beamte, etwas freundlicher, »aber es handelt sich um Mord, das ist sicher. Wernicke war der Lösung dieser ominösen Todesfälle dreier Frauen auf der Spur. Wahrscheinlich war Engstern der Täter, wenn auch manches noch sehr verworren erscheint. Wir wissen, daß Wernicke zu Engstern wollte, weil er neue Verdachtsaspekte vermutete. Seitdem wurde er nicht wieder gesehen und erst heute nacht halb verkohlt aus seinem zerquetschten Wagen gezogen.«
    Von Witolds Leiche sagten sie nichts. Sollte ich nach ihm fragen?
    Ich wagte es nicht.
    »Wo ist das denn passiert?« klang neutraler.
    »Der Wagen ist bei Weinheim einen Abgrund hinuntergestürzt, zuvor hat man meinen bewußtlosen oder bereits toten Freund mit Benzin übergossen«, sagte anklagend der Jüngere der beiden.
    Mein Gesicht war blaß und elend, das wußte ich, aber in Anbetracht dieser Schilderung war das wahrscheinlich angemessen.
    Man legte mir noch einmal ans Herz, über alles nachzudenken, was Witold in der letzten Zeit zu mir gesagt hatte, und sofort anzurufen, wenn mir irgendeine Ungereimtheit einfiele.
    »Was sagt er denn selbst?« fragte ich harmlos.
    Sie wechselten einen Blick.
    »Er kann nichts sagen«, meinte der eine.
    »Warum?« fragte ich, »ist er geflohen?«
    »Er liegt im Sterben«, kam die Antwort, »wahrscheinlich geht es heute noch zu Ende mit ihm, ohne daß er das Bewußtsein wiedererlangt. Die Ärzte geben ihm keine Chance. Er saß ebenfalls in dem abgestürzten Wagen, ist aber herausgeschleudert worden. Wahrscheinlich wollte er abspringen, und es ist im richtigen Augenblick mißglückt.«
    Das Entsetzen stand mir in den Augen.
    »Wo ist er denn jetzt?« fragte ich.
    »Im Johanniterkrankenhaus, aber Besuch ist indiskutabel. Man

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