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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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es auch nicht. Keine Nähe. Kein Verständnis. Nicht einmal Ähnlichkeit. Die Aufteilung der Chromosomen bei der Meiose geschah zufällig. Man wusste nie, was man bekam. Die meisten Kinder ähnelten ihren Eltern nicht, bis auf ein, zwei Merkmale vielleicht. Der Rest war Abweichung. Die Vererbung der Augenfarbe war polygen. Und die der Haarfarbe noch komplizierter. Das war alles nicht vorherzusagen. Nur im Nachhinein mühsam zuzuordnen. Claudia hatte ihr braunes, störrisches Hundehaar von Wolfgang und die hellgrünen Augen von seiner Mutter. Sie selbst hatte sich bei diesem Kind offensichtlich nicht durchsetzen können. Ob sie schön sei, hatte Claudia sie mal gefragt. Was sollte man denn darauf antworten? Du siehst lustig aus. Breites Gesicht, dunkle Sommersprossen, leichter Überbiss. Lustig war doch nett. Ein faltiger Batzen, hässlich wie die Nachgeburt. Wer hatte das gesagt? Ihre Mutter. Es war ihr immer noch ein Rätsel, dass diese Frau sie geboren haben sollte. Es gab keine echten Beweise. Oder hatte sie das zu Claudia gesagt? Manchmal hatte sie gedacht, Claudia sei gar nicht ihre Tochter. Obwohl sie bei ihrer Geburt doch dabei gewesen war. Nach sechsunddreißig Stunden Wehen. Anderthalb Tage. Nach zwanzig Stunden hatte sie nicht mehr daran geglaubt, wirklich ein Kind zu bekommen. War davon überzeugt, dass alles nur Einbildung sei. Ein großer Schwindel. Ein aufgeblähter Bauch und nichts dahinter. Vielleicht ein Geschwür, aber kein Kind. Ein Junge, sagten alle, weilder Bauch so riesig war. Sie war zwei Wochen über dem Termin. Bevor man sie endlich in den Kreißsaal ließ, steckte ihr die Schwester im Waschraum einen roten Gummischlauch in den After. Zwei Toiletten hinter einer Bretterwand. Schwarz-weiße Fliesen, wie in einer Fleischerei. Das kalte Wasser lief ihr die Beine runter. Warmes gab es nicht. Angeblich ein Stromausfall. Zusammenkneifen, brüllte die Schwester und hielt die Kanne noch ein Stückchen höher. Immer wieder: Zusammenkneifen! Dabei wollte sie alles los werden: Das Wasser, die Scheiße, das Kind. Ihren Körper endlich wieder für sich haben. Drei Zentimeter, sagte jemand. Und dann: Das dauert noch. Ran an den Wehentropf. Als sie dachte, dass es jetzt endlich losgehen würde, war keiner mehr da. Keine Schwester. Kein Arzt. Alle waren bei einer Frau, die zwei Betten weiter lag und während der Geburt einen epileptischen Anfall bekommen hatte. Komplett weggetreten. Und sie lag allein da. Die epileptische Frau hat ihr Kind dann gar nicht annehmen wollen.





Wie ernst sie aussah. Erika. Aufmerksam. Las ihre Antworten noch einmal durch. Wie die Augen unruhig die Zeilen überflogen, der Mund einzelne Wörter ausbuchstabierte. Sie überlegte und schrieb noch was hin. Selbst mit offenem Mund war sie schön. Jetzt flackerte schon wieder die Neonröhre. Ging aus. Ellen saß fast im Dunkeln. Genug. Die Zeit war sowieso vorbei.
    »Zum Ende kommen. Der Countdown läuft.« Endspurt. Sonst machten sie alles nur noch schlimmer.
    »Noch zehn Sekunden.« Sie kannte das. Zum Schluss schrieben sie immer noch irgendeinen Blödsinn hin. Einfach so. Damit irgendwas dastand.
    »Stifte und Finger weg.«
    Wieder Stöhnen, aber sie gehorchten. Alle taten total erschöpft, als ob sie irgendwas geleistet hätten. Immerhin waren sie gefügig. Beste Voraussetzungen, um sie mit neuen Sachverhalten zu konfrontieren. Sie hievte die große Rolle auf den Ständer. Der schwarze Tragegriff hielt das Kartenwerk. Beschichtetes Leinen, abwaschbar und etwas rissig, aber das Schaubild war bestechend klar und schön. Nirgendwo waren die Mendel’schen Gesetze der klassischen Vererbung simpler und eindrucksvoller dargestellt als hier. Das Kreuzungsschema zweier reinerbiger Rinderrassen. Dominant-rezessiver Erbgang. Ein Kessel Buntes. Ganz oben traf ein schwarz-weiß gescheckter Stier auf eine rotbraune Kuh. Was dabei rauskam, waren schwarze Kälber. Aber dann, eine Generation weiter, geschah das Erstaunliche, die regelhafte Aufspaltung der Merkmale: Sechzehn, vier mal vier Möglichkeiten. Lauter bunte Bastarde.
    »Wie Merkmale verschwinden und wieder auftauchen, unterliegt bestimmten Gesetzen und lässt sich vorhersagen. Schreiben Sie mit: Sobald zwei reinerbige Individuen gekreuzt werden, die sich in mehr als einem Merkmal unterscheiden, kommt es in der zweiten Tochtergeneration zu einer echten und dauerhaften Neukombination von Erbanlagen.« Alles zeigte sich in der zweiten Tochtergeneration. Das Zurückfallen zu den

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