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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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elterlichen Typen. Zu den Großeltern. Claudias Kind würde seiner Großmutter, also ihr, mehr ähneln als Claudia selbst. Ein Dreiklang. Drei Generationen unter einem Dach. Früher war das ja üblich. Ihr Enkelkind könnte noch einmal ihre blauen Augen bekommen. Hell, ohne Pigmente. Sie wusste nicht mal, welche Augenfarbe dieser Typhatte. Auf dem Foto war ja nichts zu erkennen gewesen. Das Gesicht vom Grinsen entstellt. Irgendein Mann. Der eine andere Sprache sprach. Ein Fremder. Das Kind würde nicht nach Hause kommen. Claudia würde nicht bauen. Nicht auf den Polderwiesen. Nicht im Sauerland. Nicht im Speckgürtel von Berlin, wohin der Sohn der Bernburgerin gezogen war. Warten brachte nichts. Nichts würde sich auszahlen. Die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Wenn sie aber doch noch ein Kind bekäme. Schließlich hatte sie ja geheiratet. Einen Enkel auf einem anderen Kontinent. Zwölf Flugstunden entfernt. Das Kind könnte sie nicht verstehen. Sie konnte nur ein paar Worte. Heiße Kartoffeln im Mund. Mickey-Maus-Englisch. Claudia hatte sich immer lustig gemacht. Diesen Drang, abzuhauen, hatte Claudia von Wolfgang. Immer, wenn es kompliziert wurde, verließ er den Raum. Damals war er auch einfach gegangen. Hatte Ilona und die Kinder zurückgelassen. Für sie. Das war heute kaum noch zu glauben.



»Frau Lohmark?«
    »Ja, Paul.«
    »Warum heißt das eigentlich Tochtergeneration?«
    »Wie soll es denn sonst heißen?«
    »Naja.« Er fummelte an seiner Kapuze herum. »Zum Beispiel vielleicht Sohnesgeneration?« Das hier würde länger dauern. Sie stand auf und lehnte sich ans Pult.
    »Der Beitrag der Männer zur Fortpflanzung ist letztendlich gering. Was sind schon Millionen von Samenzellen gegen eine große Eizelle, die nur einmal im Monat reift?« Was war schon der hastig ausgeführte Geschlechtsakt auf einem Hochstand gegen neuneinhalb Monate Tragezeit?
    »Jeder Mann wird von einer Frau geboren. Es gibt wederSohneszellen noch Sohnesgenerationen. Die Fortpflanzung ist weiblich.«
    Die Mädchen kicherten. Davon konnten sie noch mehr haben.
    »Warum zum Beispiel haben auch Männer Brustwarzen? Obwohl sie nicht stillen müssen.«
    Ratlosigkeit.
    »Erogene Zone?« Kevin. Wer sonst.
    »Weil die Embryogenese grundsätzlich erst einmal das Weibliche vollzieht. Auch wenn vom Moment der Befruchtung an klar ist, welches Geschlecht der Embryo einmal haben wird. Das Ypsilon ist nur dafür da, dass die Entwicklung zum Weiblichen unterdrückt wird. Männer sind Nicht-Frauen.«
    Auf einmal hörten sie zu. Jetzt, in diesem Moment, begriffen sie einen Sachverhalt zum allerersten Mal. Die Rechnung ging auf. Endlich fraßen sie das Korn, das sie seit Wochen ausgestreut hatte. Wenn man den Straußen einen Sack über den mickrigen Kopf zog, ließen sie sich ruhig führen, und man konnte alles mit ihnen machen. Ich sehe was, was du nicht siehst. Jetzt nur noch in aller Ruhe die Schlinge zusammenziehen.
    »Die meisten Erbkrankheiten liegen auf dem X-Chromosom. Deshalb haben Männer keinerlei Ausgleich. Sie sind anfälliger, und sie sterben früher.« Fast konnten sie einem leidtun. Sie hatten wirklich einiges zu kompensieren. Deshalb mussten sie sich auch so viel einfallen lassen: Erfindungen und Kriege. Geheimdienstüberwachung. Reden auf dem Schulhof. Straßenumbenennungen. Straußenzucht.
    In der Kastanie draußen hockte eine Gruppe von Krähen.Sie zankten sich um die besten Plätze. Aber keine verließ den Baum. Sie waren klug. Die konnten Freunde von Feinden unterscheiden. Obwohl die Vögel gezwungen waren, beim Gehirn Gewicht einzusparen, um flugfähig zu bleiben. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Die Strauße hatten kleine Hirne und konnten trotzdem nicht fliegen. Claudia fehlte Wolfgang nicht. Er war ja daran gewöhnt, nichts von seinen Kindern zu wissen. Seine Ältesten hatten damals unterschrieben, dass sie keinen Kontakt mit ihm wollten. Er würde seine Kinder wohl nicht mal auf der Straße wiedererkennen. Warum auch. Zu sagen hatten sie sich nichts. Bei seinem Bruder war es das Gleiche. Der Sohn aus erster Ehe. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Und die Gesten, die ganze Haltung. Ein Reiben an der Nase, leicht vornübergebeugt. Mit Männern war das eben anders. Die kümmerte der Nachwuchs nicht. Die hatten Arbeit und Hobbys: Computer, Autos, Fallschirmspringen, Skat, Strauße. Ihr Vater war immer in den Wald gegangen. Zum Jagen. Aber ihre Mutter hatte keine Lust, die Sammlerin zu spielen. Das hatte nicht lange gutgehen

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