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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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können. Eine einfältige Frau. Kühl. In ihrer Jugend vielleicht einmal reizvoll. Später aber war ihre Schönheit nichts als eine kühne Behauptung gewesen. Sie war bestenfalls gepflegt. Noch im Krankenhaus machte sie sich zurecht. Wächserner Glanz. Eine Eiskönigin. Augen wie böhmisches Glas. Kunstvoll, durchsichtig, ohne Grund. Zum Glück war sie tot.
    »Die Wildform des Rindes, wie heißt die noch mal?«
    Eine einsame Meldung. »Ja, Ellen?«
    »Auerochse.«
    »Gut.« Die Aufmerksamkeit ließ schon wieder nach.
    »Und wo lebt der Auerochse heute?«
    Vage Verunsicherung.
    »In Bayern.« Es kam von Kevin. Er fand das anscheinend komisch.
    »Der Auerochse ist ausgestorben! Tot! Vergraben! Für immer … Noch vor der Steller’schen Seekuh. Merken Sie sich das!« Der Blutdruck. Sie musste sich setzen.
    »Das Rind ist das älteste und nützlichste Haustier überhaupt. Es liefert Fleisch, Arbeitskraft und Milch. Ja, mit der Domestizierung des Rindes vor etwa zehntausend Jahren begann die Zivilisation. Eigentlich hing der zivilisierte Mensch schon immer an den Zitzen der domestizierten Kuh.« Ja, das war ein gutes Bild. Philosophie hätte sie auch unterrichten können. Die Tischplatte voller Kreide. Man wurde sie nicht los. Da konnte man sich noch so oft die Hände waschen.
    »Die Zucht, das ist eine Wissenschaft für sich. Eine Form der Erziehung. Die Erziehung zum Guten. Ausgewählte Merkmale werden betont. Und schlechte unterdrückt. Man wählt die ertragreichen und umgänglichen Exemplare aus und kreuzt sie weiter. So hat man zum Beispiel in das schwarzbunte Milchrind, das früher hier sehr verbreitet war, dänische Jerseybullen eingekreuzt, um den Fettgehalt der Milch zu steigern. Und deren Nachkommen wurden dann wieder mit Holstein-Rindern gepaart, um die Milchleistung zu erhöhen. Ziel war die Züchtung einer neuen Rinderrasse.« Wege zur sozialistischen Kuh. Langlebig, fruchtbar und robust. Drei Fliegen mit einer Klappe. Pralle Euter, starke Muskeln. Ein paar Jahre milchbetontes Mästen. Fertig war das vollkommene Zweinutzungsrind. Die eierlegende Wollmilchsau.
    »Kultur kommt von Kultivieren! Von Zucht und Ackerbau. Das können Sie sich ruhig aufschreiben. Und Haustiere, zumBeispiel, das sind Kulturgüter. Lebendige Denkmäler. Wenn einzelne Rassen aussterben, dann sind sie für immer verloren. Das ist nicht wie mit Häusern, die man wieder aufbauen kann, wenn man die Baupläne irgendwo wiederfindet.« Sie war immer gern in den Palast gegangen. So hell. Das Licht. Großzügig, richtig nobel. Weißer Marmor. Kupferdampfgetönte Scheiben. Und dieses schöne Restaurant in der zweiten Etage. Gepolsterte Holzstühle an Vierertischen. Die Kellner trugen alle die gleiche Kleidung, eine richtige Uniform. Irgendwann werden sie den auch wieder aufbauen. Aber die Kühe ihrer Kindheit, das Schwarzbunte Milchrind würde es bald nicht mehr geben. Das bisschen Gefriersperma, das sie noch gefunden hatten. Die Genreserve war aufgebraucht. Es hatte sich ausgekreuzt.
    »Das Zweinutzungsrind ist tot. Heute stehen ja nur noch Holsteinrinder auf den Weiden. Das sind reine Milchproduzentinnen. Richtige Hochleistungskühe.« Arbeitsteilung allenthalben. Selbst die Kühe waren spezialisiert.
    Aber die Klasse hatte schon wieder den Anschluss verloren. Um zwei Ecken konnten die nicht denken. Nicht mal um eine.
    Die übliche Meldung.
    »Ja, Annika.«
    »Die Kühe paaren sich doch gar nicht mehr wirklich, oder?« Der Tonfall verriet sie. Das war eine rhetorische Frage. Sie wusste es genau. Sie kannte die Antwort und wollte nur wieder ein Bienchen kassieren.
    »Annika, Kühe paaren sich sowieso nicht.« Die Weiber besprangen sich höchstens, um dem Stier zu zeigen, wie brünstig sie waren.
    »Wie muss die Frage also richtig heißen, Annika?«
    Faltenwurfstirn. Offener Mund. Na, also: Es war ihr peinlich. »Ähm … Rinder meine ich natürlich. Die werden doch gar nicht mehr in echt gepaart.«
    »Nein.«
    Jetzt wurde es doch noch spannend.
    »Natursprung wird kaum noch angewandt. Es ist viel zu teuer, die Bullen durch die Gegend zu karren. Die Kühe werden vom Besamungstechniker mit Gefriersperma befruchtet.«
    »Kuhficker.« Eine dünne Stimme aus der letzten Bankreihe. Ferdinand. Bei ihm jetzt also auch. Einmal langsam durch den Gang nach hinten, direkt zu ihm.
    »Nein … Rucksackbulle!« Er konnte ja nichts dafür. Sobald die Keimdrüsen funktionsfähig waren, entstand der Drang zu sexueller Betätigung. Und wenn der nicht ausgelebt

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