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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Gehirn ausfüllte. Horror vacui. Die Natur ertrug keine Leere.
    Wie ahnungslos sie dreinblickten. Wie benommen. Nennen Sie vier rezessive Körpermerkmale und vier dominante Erbkrankheiten! Hatten sie alles gehabt. Das war nun wirklich einfach. Es gab so viele. Allein an den Fingern: Vielfingrigkeit, Kurzfingrigkeit, Spinnenfingrigkeit. Eine Aufgabe weiter war sogar der Stammbaum einer vielfingrigen Familie aufgemalt, neben einem Schwarz-Weiß-Foto. Ein Vater und seine drei Kinder, die ihre Vampirfinger von sich streckten, die Handrücken nach vorn, den Blick geradeaus, in die Kamera. Aus einem alten Biologiebuch. Dreißigerjahre. Ein bisschen Gruselkabinett gehörte dazu. Budenzauber. Seltsame Sammelsurien. Verschrumpelte Wesen, die in ihrer eigenen Suppe schwammen. Albinos, Haarmenschen, Fellmädchen, Bartfrauen, die Dame ohne Unterleib. Der Junge aus ihrer Straße, als sie noch ein Kind war. Der krumme Reschke. Er lebte mit seiner Mutter allein in einem maroden Fachwerkhaus. Ein buckliges Männlein in armseliger Kleidung. Das weinrote Seidenhemd an den Ärmeln verschlissen. Es spannte über seinem Buckel. Er schlurfte durch die Straßen wie ein Affe. Halslos und vornübergebeugt, mit hochgezogenen Schultern. Vielleicht kam das vom Buckel. In der übergroßen Hand ein Einkaufsnetz, das auf dem Pflaster schleifte. Sein Alter war nicht zu schätzen. Alles war möglich. Ein riesiges Kind. Oder ein Greis mit einem Jungsgesicht. Was normal war, zeigte sich erst in den Abweichungen. Man brauchte die Missbildungen, um zu erkennen, was gesund war. Monster kam von monstrare. Es ging doch um Anschaulichkeit.
    Aber was zeigten die Biologiebücher heute? Abstrakte Aufnahmen. Blank polierte Modelle der in sich selbst verdrehten Doppelspirale. Rasterelektronenmikroskopien. Ein schwarz-weißes Gruppenbild der dreiundzwanzig Paare würstchenförmiger Chromosomen, aus denen sie alle bestanden. Schrumpelige Erbsen. Mönch Mendel mit dünner Brille und dicker Kette. Dolly, das doofe Schaf. Und ein altes Zwillingspaar, das blaubefrackt seine Eineiigkeit zur Schau stellte. Natürliche Klone. Erbgleiche Nachkommen mochten nützlich für die Forschung sein, aber sie hätte keine haben wollen. Die gleiche Erbsubstanz doppelt füttern? Das hätte noch gefehlt. Dabei hatte das der Frauenarzt anfangs sogar vermutet, weil ihr Bauch so riesig war. Aber wenn Claudia eine Zwillingsschwester gehabt hätte, vielleicht wäre die ja hiergeblieben.Und natürlich die Fruchtfliege, das Wappentier aller Genetiker. Die würde niemals aussterben. Leicht zu züchten, leicht zu halten. Vergammeltes Obst war immer im Haus. Ein Modelltier: Drosophila melanogaster. Generationenwechsel alle zwei Wochen, riesige Nachkommenschaft, nur vier Chromosomen. Und die Erbmerkmale waren leicht zu erkennen. Mit einer Handlupe, wenn die Tiere betäubt waren. Damals im Seminar stand eines Tages auf jedem Tisch ein Erlenmeyerkolben, von einem Wattebausch verschlossen. Darin unzählige Fruchtfliegen in lauter Mutationen, auf die einige Forscher Jahre gewartet oder für die sie mit Röntgenstrahlen nachgeholfen hatten: Außerirdische Augen. Rote oder weiße. Gemustert wie ein Schachbrett. Verkümmerte Flügel. Winzige Borstenhärchen. Sie sollten die Fliegen betäuben und auf einem weißen Blatt Papier nach Merkmalen sortieren. Aber wenn man zuviel Äther nahm, waren sie sofort tot. Zu wenig und sie wachten zu früh auf und flogen weg. Die Verluste waren groß und ruinierten ihr das Ergebnis. Lauter tote und desertierte Versuchstiere. Da hatte es Mendel mit seinen Erbsenleichter gehabt. Die Natur mochte im Versuch sprechen. Aber jedes Experiment führte ein Eigenleben.





Im Abschnitt über die Erbkrankheiten gab es nur ein einziges Foto. Es zeigte ein grinsendes mongoloides Kind mit einem Schmetterling auf der Hand. Sah aus wie ein Kohlweißling. Ausgerechnet. Was sollte das denn? Der Schädling und die Missgeburt. Früher hieß das noch Trisomaler Schwachsinn. Aber das durfte man heute nicht mehr sagen. Was man alles nicht mehr sagen durfte: Neger, Fidschis, Zigeuner, Zwerge, Krüppel, Sonderschüler. Als ob damit irgendwem geholfen wäre. Sprache war doch dazu da, klarzumachen, was gemeint war. Die Wirbellosen nannte man schließlich auch wirbellos. Immer gab es irgendwas, das man nicht sagen durfte. Dass die UdSSR ein Vielvölkerstaat war. Nein, alles nur Sowjetmenschen. Neuerdings sollte es nicht mal mehr Menschenrassen geben. Wer das leugnete, war blind. Dass ein Neger

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