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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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werden konnte, bahnte er sich auf verbale Weise seinen Weg.
    Durch den Gang wieder zurück zur Tafel.
    »Mit dem rechten Arm wird im Kuhafter nach dem Muttermund getastet, während man mit der Linken die Spermaspritze in der Vagina vorsichtig Richtung Gebärmutter schiebt.« Sie machte es vor. Ein paar angedeutete Armbewegungen. Befruchten war Handwerk. Und Gebären war Arbeit.
    Angeekelt die Mädchen. Ungläubig die Jungs.
    Das war echte Aufklärung. Nicht dieses alberne Gerede von Vorspiel und körperlicher Vereinigung. Schmusen, steifes Glied, Samenerguss. Bau und Funktion der Geschlechtsorgane, erogene Zonen. Hygiene, Erkrankung, Verhütung. Die Sexualität war ein Verhalten des Menschen, die Pubertät eine Phase ihrer Entwicklung. Das Bett die kleinste Zelle der Gemeinschaft.
    »Und um das Sperma zu gewinnen, wird der Zuchtbulle dreimal in der Woche in die Abspritzkammer geführt. An einer langen Stange, die man an seinem Nasenring festmacht.«
    Kevin ließ sich nichts anmerken. Alle Achtung. Machte er wirklich gut. Nicht mal erweiterte Nasenlöcher.
    »In der Abspritzkammer steht sein Sprungpartner bereit. Ein ruhiges Tier, das der Bulle ein paar Mal besteigt. Keine Kuh, sondern ein Stier.« Für Kühe war das viel zu gefährlich. Die würden sich das Kreuz brechen. Dem Standstier machte das nichts. Zuchtbullen sprangen sowieso auf alles, was auch nur entfernt so aussah wie ein Hinterteil. Auch auf höhenverstellbare Attrappen auf Rädern.
    »Zwei, drei Blindsprünge braucht er allein, um ausreichend stimuliert zu sein und den Penis auszuschachten. Den nimmt der Absamer und führt ihn in die Kunstscheide ein.« Vorgewärmte Gummihaut, richtige Temperatur, optimaler Druck, sofortige Ejakulation. Das waren Spitzenvererber. Und Spitzenverdiener. Es gab nur wenige hochwertige Vatertiere. Der Rest kam zum Schlachter.
    »Das Sperma wird hundertfach verdünnt, tiefgefroren und weltweit verschickt. Ein Erguss reicht für über hundert Besamungen. Das ist die effektive Ausbeutung einer Kette von Schlüsselreizen.« Torbogenreflex. Taktile Stimulierung durch die Blindsprünge, bei denen Kopf und Brustbein den Rücken des Standstiers berühren. Als Höhepunkt der Deckreflex. »Gefühle braucht es dafür nicht. Das geht alles automatisch.«
    Entgeisterte Blicke. Ja, es gab so viel Unkontrollierbares. Scheinbar echte Gefühle, die nichts als Schlüsselreize waren. Ob nun der Schluckauf, die Flüssigkeit, die einem manchmal beim Gähnen unvermittelt aus dem Rachen spritzte, oder irgendwelche Drüsen, die aktiviert wurden oder eben nicht. Funktionierende Maschinen. Hormonschwankungen. Chemische Reaktionen. Arterhaltung. Der Geburtsvorgang, nichts als die hormongesteuerte Trennung von Mutter und Kind.
    »Sind die schwul, oder was?« Paul. Grinsen war gar kein Ausdruck.
    »Bist wohl selber schwul.« Kevin, natürlich.
    Im neuen Lehrplan wurde tatsächlich behauptet, dass Homosexualität eine Variante des Sexualverhaltens sei. Als ob das Geschlechtsleben Varianten nötig hätte!
    »Die Fortpflanzung des Menschen kennt nur einen Weg, die Erbinformation in die nächste Generation zu transportieren. Erinnern Sie sich an die Pantoffeltierchen! Wie war das noch mal? Die können beides. Die ungeschlechtliche Querteilung. Und die Längsteilung, bei der sich die Einzeller aneinanderlegen und über eine Plasmabrücke winzige Zellkerne austauschen. Man könnte behaupten, die Pantoffeltierchen hätten den Sex erfunden. Und wozu ist der gut? Um das Erbgut aufzufrischen und mögliche Fehler zu korrigieren. Rekombination! Genetische Vielfalt! Das ist der entscheidende Vorteil. Jungfernzeugung und Selbstbefruchtung taugen eben nur für niedere Lebewesen. Alle halbwegs komplexen Organismen pflanzen sich geschlechtlich fort.«
    Jetzt konnte sie eigentlich auch das Licht ausmachen. Hell genug war es ja.
    »Die wichtigste Aufgabe aller Organismen ist nun einmal, eine möglichst große Anzahl überlebender Nachkommen zu zeugen. Es geht immer nur darum, Erbanlagen weiterzugeben.« Von Zelle zu Zelle, von Generation zu Generation. Informationsübertragung mittels Nukleinsäurefäden, Makromoleküle, die um jeden Preis ihren Fortbestand sicherten, Verhaltenstelegramme an die zukünftige Welt. Leben wollte leben. Sogar Selbstmörder bereuten ihre Tat im letzten Augenblick.
    Es war schon erstaunlich, dass jede Art ihresgleichen hervorbrachte. Dass aus Rindern Rinder und aus Weizen wieder Weizen wurde. Und dass sich aus einem larvenähnlichen Fötus ein

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