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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Reihen. Von den Schränken bis zum Fenster. Die Monstera könnte auch mal wieder gegossen werden. Fünf staubige Finger, die schlaff herunterhingen. Ein erstaunliches Ding. Anscheinend war störrisches Wachstum auch eine Form, mit Vernachlässigung fertigzuwerden. Aber das kannte man ja. Wahrscheinlich sogar die wirkungsvollste. Sie schien wirklich am Leben zu hängen. Sie wuchs und wuchs. Einfach immer weiter. Nur blühen würde sie in diesen Breitengraden nicht. Bald würde der erste Schnee fallen. Gemäßigte Klimazone. Vier ordentliche Jahreszeiten. Nicht nur immer Sonnenschein, und selten mal so ein Regen wie an der kalifornischen Küste. Wie gut das tat, damals. Nach ihrer Wüstentour. Der Himmel endlich einmal bedeckt, der Pazifik glanzlos und grau. Braune Pelikane stürzten sich wie Kamikazeflieger in die See. Am Spülsaum rannten junge Strandläufer mit langen, gebogenen Schnäbeln den Wellen hinterher. Am Ufer patrouillierten Männer mit Metalldetektoren. In diesem Land schienen alle immer irgendetwas zu suchen. Und die Palmen sahen auch nicht so aus wie im Fernsehen, ganz zerzaust und vertrocknet. Und hier? Seit Tagen war die Sonnenicht mehr zu sehen gewesen. Alle redeten schon davon. Aber sie waren doch keine Pflanzen. Das hatte Claudia einmal gesagt, als sie wieder mal ihre heruntergelassenen Rollos hochzog. Jahrelang saß sie nachmittags im Dunkeln. Einkapselung bis zum Erwachsenenstadium. Sie waren zwar keine Pflanzen, aber Claudia sah aus wie eine Larve. Ein blasses, dünnhäutiges Gespenst. Dünn sowieso. Und diese Schauermusik. Glimmende Räucherstäbchen. Vollgeschriebene Kladden. Tagebücher mit Schlösschen dran. Versteckte Schlüssel. Und überall Staub. Als ob jemand gestorben wäre. Das war noch schlimmer als Christenlehre. Keine Pflanze, aber ein Tier. Stumm und ruhelos.
    Weiter durch die Reihen. Kontrolle musste sein. Irgendwo ein Seufzer. Wie Tom wieder dasaß. Ein schlaffer Sack. Laura presste ihren Brustkorb gegen die Tischkante. Aus Nervosität oder Wichtigtuerei. Kevin, auf der Lauer. Der Nasenring keine Handbreit vom Blatt entfernt, zögerliche Kopfbewegungen. Ein Abguckmanöver. Aber Ferdinand saß viel zu weit weg. Der Abstand war größer als jede Individualdistanz.
    »Kevin, die Mühe können Sie sich sparen. Ferdinands Schrift kann nicht mal ich lesen.«
    Alle drehten sich zu ihm. Der Herdentrieb. Kleiner Witz zur Auflockerung. Sie war ja kein Unmensch. Schon riss er sich zusammen, blickte angestrengt auf sein Blatt.
    Wo kam die Monstera eigentlich her? Vielleicht ein Geschenk? Aber von wem? Die Zeiten, in denen man als Lehrer Geschenke bekam, waren längst vorbei. Den ganzen Arm voller Blumen am Lehrertag. Zwölfter Juni. Schönste Blütezeit. Vor allem Pfingstrosen. Das Lehrerzimmer ein einziges Blumenmeer. Auch verordnete Gesten waren was wert.
    Und dann wieder Jakob, dieses verzärtelte Brillentier. Kerzengerade Haltung. Konfirmandenfigur. Gleich die erste Aufgabe hatte er ausgelassen. Das war keine Zumutung, sondern Provokation. Wie egal ihm alles war. Der hatte mit seinem Leben abgeschlossen, noch ehe es anfing. Sich mit allem abgefunden, mit den unangekündigten Kontrollen und der strengen Benotung. All das machte ihm nicht das Geringste aus. Genau wie sein Vater, ein gemütlicher Herr mit Bürgerrechtlerbart und randloser Brille. Nicht nur Kurzsichtigkeit wurde dominant vererbt. Jeder Elternabend eine Demonstration. Oberste Erbregel: Waren die Kinder schlimm, waren die Eltern noch schlimmer. Bei ihnen waren die Eigenschaften voll ausgebildet, die in ihren Abkömmlingen noch harmlos schlummerten. Tabeas überspannte Mutter. Natürlich alleinerziehend. Was die wohl gebissen hatte. Ständig fiel sie einem ins Wort. Dass jedes Kind ein ganz besonderes Individuum sei, vor allem aber ihres. Was sie nicht sagte! Der klägliche Versuch, das eigene verfehlte Leben durch eine weniger missratene Nachkommenschaft aufzuwerten. Flucht nach vorn. Das Kind war ihre Anlage. Die Erbanlage als einzige Investition in die Zukunft. Es war die Hoffnung, dass die eigenen Gene sich in einer neuen Kombination doch noch als vorteilhaft erweisen könnten und der Erfolg dieser Mischung die Vererber rückwirkend auszeichne. Vor allem, wenn der andere Erbträger abgehauen war.
    Man konnte die Konzentration förmlich riechen. Schweißabsonderung. Der Versuch, einmal Vergessenes wieder zu Tage zu fördern. Erinnerung konnte trügerisch sein. Erinnerung war trügerisch. Lauter blinde Flecken, die das

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