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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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anders als ein Eskimo aussah, war ja wohl offensichtlich. Wenn es Rinderrassen gab, dann gab es auch Menschenrassen. Selbst Mendels Gesetze waren heute nur noch Regeln. Alles nur noch Syndrome, nach ihren Entdeckern benannt. Wie bei Inseln. Gehisste Fahnen in kranken Körpern. Durch Diagnosen unsterblich werden. Down, Marfan, Turner, Huntington. Ohne Hinweis mehr darauf, wie schlimm das alles war: Schwachsinn, Zwergenwuchs, Plattfüße, Unfruchtbarkeit. Der erbliche Veitstanz. Früher Tod. Das Leben mit vierzig vorbei. Als ob es sonst anders wäre. Das galt ja für alle. Zumindest für jede Frau. Ein Drittel der gesamten Lebensspanne für nichts und wieder nichts. Postreproduktives Überleben. Das gab es auch nur beim Menschen. Die Gene überwinterten in unserem Körper und warteten auf bessereZeiten. Auf den Ausbruch, irgendwann. Herumgeschleppte Defekte. Genetik war dramatisch.
    Der rezessive Erbgang war am spannendsten. Man hatte es, aber es zeigte sich nicht. Vielleicht doch. Irgendwann. Ein Krimi. Offene Wunden. Blut, das nicht gerinnt. Früher ließ sie noch den Stammbaum europäischer Fürstenhäuser abmalen. Von Victoria abwärts, bis fast in die Gegenwart. Weit verzweigte Linien. Ein phantastisches Beispiel für geschlechtschromosomale Vererbung. Sie musste die Tafel ausklappen, damit alle raufpassten. Die erste Überträgerin, ihre Töchter und Enkelinnen. Allesamt gesund. Die Mitgift war hoch. Endlich passte mal das Wort. Schuldige Mütter und ihre früh verstorbenen Söhne. Mit roter Kreide markiert. Die Hälfte der Jungs musste dran glauben. Harmlose Stürze. Kleine Autounfälle. Leichte Verletzungen. Innere Blutungen. Fehlende Konserven. Der letzte Zarewitsch. Ein Leben am seidenen Faden. Auch ohne Revolution.
    Das mit dem Tafelbild sprach sich rum, und dann musste sie zu Hagedorn, dem Schulleiter. Eine Agentin des Klassenfeindes sei sie. Eine Handlangerin der Konterrevolution, des Revanchismus. Das musste man sich mal vorstellen! Als hätte sie öffentlich die Pommernfahne geschwungen. Schon klar: Nur Kommunisten hatten frische Gene. Aber Hagedorn hatte ihr nichts gekonnt. Sie lieferte ihnen den biologischen Beweis dafür, dass der Adel sich durch gezielte Inzuchtheiraten selbst ausgerottet hatte. Damals wusste sie ja nicht, dass tatsächlich noch irgendwo Könige regierten. Märchenpersonal. Figuren aus tschechischen Kinderfilmen. Aber der fortgeschrittene Ahnenverlust war ein Fakt. Rennpferde konnten sie züchten, aber keine Thronfolger. Genetische Einfalt wardas. Die hatten eben immer nur auf das Blut und nicht auf das Erbgut geachtet. Auch der krumme Reschke sollte angeblich aus einem katholischen Dorf stammen, in dem alle immer unter sich geblieben waren, vor dem Krieg. Verstärkung unerwünschter Merkmale. Die Inzuchtdepression zeigte sich immer zuerst am Mund. Bei den Habsburgern die komplett verzogene Kauleiste. Ausgefranste Schnäbel bei den Straußen. Es gab einfach noch zu wenig Zuchttiere im Land. Man wusste nicht genau, was man bekam. Da blieb nur die Anpaarung von Tieren unbekannter Herkunft. Ein Blinde-Kuh-Spiel. Zucht war das nicht. Zucht ging nur, wenn zweifelsfrei feststand, welches Ei von welchen Eltern stammte. Wenigstens durften die Hähne noch selber decken. Auch wenn Wolfgang daneben stand. Natursprung. Jeder Hahn hatte zwei Hennen. Haupt- und Nebenfrau. Es war immer ein Trio. Strauße lebten zu dritt. Die Hähne brüteten nachts, die Hennen am Tag. Wie einfach alles sein konnte.
    Vor ihr lag der Stammbaum der spinnenfingrigen Familie. Mann und Frau. Kreise und Vierecke, die neue Kreise und Vierecke hervorbrachten. Dünne Linien, die sich neu verzweigten. Nur die geborenen Kinder zählten.
    Wolfgang hatte ja auch zwei Hennen gehabt. Doppelter Bruterfolg. Zwei Frauen, drei Kinder. Ein Quadrat zwischen zwei Kreisen. Ilona und sie. Dabei hatte sie mit dieser Frau nichts zu tun. Aber man konnte sich nicht aussuchen, mit wem man verwandt war. Über drei Ecken oder ein Viereck. Man konnte sich ja nicht einmal seine Kinder aussuchen. Nur austragen. Blutsverwandtschaft verpflichtete zu nichts. Auf die Rücksicht der Gene war kein Verlass. Nicht mal auf ihren Egoismus. Es sah schlecht aus mit Enkelkindern. Ein Strichins Leere. Eine Sackgasse. Das tote Ende einer Entwicklung. Claudia war schon fünfunddreißig. Aber die Strauße sahen ihre Küken ja auch nie wieder. Im Tierreich kam man sonntags nicht zum Kaffeetrinken vorbei. Dankbarkeit war nicht zu erwarten, und ein Rückgaberecht gab

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