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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Lebewesen entwickelte, das seinen Erzeugern glich, egal, ob nun Strauß, Schnirkelschnecke oder Mensch. Die Art war eine Geschlechtsgemeinschaft. Der Fortpflanzungstrieb war mächtig. Sogar Tiger und Löwe erlagen ihm in Gefangenschaft und zeugten miteinander unfruchtbare Hybride.
    »Und aus den anatomischen Unterschieden der Geschlechter ergibt sich nur eine zwingende Handlung: Der Schlüssel muss ins Schloss.« Der Enddarm war nun mal kein Geschlechtsorgan. Die Schwulenkrankheit. Es war wirklich das klügste aller Viren. Seine Taktik war geradezu genial. Dass es ausgerechnet das Immunsystem angriff, das den Körper doch vor Infektionen schützen sollte. Ein Thriller. Der Feind in meinem Bett. Es war nur konsequent: Mit der Sexualität kam auch der Tod in die Welt. Präservative über Besenstiele zu rollen, musste sie extra für den Unterricht lernen. Gummi über Holz. Die Übung brachte sie mittlerweile mit technischer Präzision über die Bühne. Sie selbst hatte sowas nie benutzt. Warum auch. Früher nahm sie die Pille. Und irgendwann hatte sich das nicht mehr gelohnt. All die Hormone, die das Grundwasser verseuchten und die Männer weich machten.
    »Und jetzt schlagen Sie bitte mal das Buch auf: Seite neunundachtzig, Aufgabe zwölf. Tom, lesen Sie bitte vor.«
    Annika zog einen Flunsch. Das Zugpferd war beleidigt.
    »Entscheide, bei welchen der folgenden Merkmals…«
    Was für ein Stottern.
    »…änderungen es sich um Mu-ta-tio-nen …«
    Schwieriges Wort.
    »… oder um Modifikationen handelt …«
    Von wegen Lesekompetenz.
    »… und begründe deine Ordnung.«
    Und warum das Schulbuch sie duzte.
    »Danke. Jetzt jeder für sich. Lösungen ins Heft, bitte.«
    Die Sommersprossen, das Winterfell der Tiere, die Muskeln eines Bodybuilders, Rosettenmeerschweinchen. Mutationen oder Modifikationen? Genetisches Programm oder Einfluss der Umwelt? Innen oder außen?
    Ein verzücktes Quietschen.
    »Oh, Meerschweinchen.« Das kam von Herzen. Bei den albernen Nagern flippte immer jemand aus. Diesmal Laura.
    Pervers platzierte Wirbel. Exaltierte Strähnen. Sinnlose Züchtungen. Mutanten. In keinem Ökosystem der Erde war dafür ein Platz reserviert. Claudia hatte eines zu ihrem zwölften Geburtstag bekommen. Das Geschenk einer Freundin. Schöne Freundin. Erpressung war das. Freddy. Angeblich ein Männchen. Und dann wurde Freddy immer dicker und gebar schließlich zwei Junge. Nicht bei allen Säugetieren war die Geschlechtsbestimmung so einfach wie beim Menschen. Aber was sollte man auch von Tieren erwarten, die von vorn genauso aussahen wie von hinten? Glücklicherweise war der Nachwuchs weiblich. Diese Viecher waren ja schon mit drei Wochen geschlechtsreif und kannten kein Inzesttabu. Freddy war beige mit dunkelbraunen Flecken. Die Standardausführung. Die Kleinen zeigten ein paar mehr der überzüchteten Merkmale: Fellkleid mit hellblonden Strähnen. Dunkelblondes Hinterteil mit ausladenden Haarbüscheln wie eine Schleppe, in der sich kleine Kotbrocken verfingen. Dieser Gestank. Verpestetes Kinderzimmer. Zum Glück starb Freddy bald an einem Gehirntumor. Sie vergruben die Überreste hinter dem Neubaublock bei den Garagen. Die Kleinen verschenkten sie.
    Kind und Haustier. Das endete nie gut. Einem Kind ein Tier zu schenken war eine besonders perfide Form von Tierquälerei. Von wegen Schulung der sozialen Kompetenz. Da ging es nur noch um Leben und Tod. Das Tier war der kindlichen Allmacht ganz und gar ausgeliefert. Und Kinder waren nicht unschuldig. Bei aller Liebe. Nie gewesen. Sie waren unverstellt ehrlich, unverstellt brutal. Wie die Natur. Früher oder später starb das Tier. Meistens früher. Entflogene Wellensittiche. Hamster, von kräftigen Kinderhänden plattgedrückt. Fellreste in Leichenstarre. Und dann war das Geschrei groß. Das Spielzeug hatte ausgespielt. Trauer sah anders aus. Verendete Zierfische auf der Auslegware. Herausgerissene Fliegenbeine. Gevierteilte Frösche. Darüber berichteten keine Zeitungen. Aber über Babys fressende Rottweiler. Dabei war das doch ganz natürlich. Der Jagdtrieb. Und was war von der Natur, von den Instinkten geblieben? Ein Ziehen an der Leine. Ein heiseres Bellen in der Nacht.
    Als Kind war sie in den Ferien oft bei den Großeltern. Sie hatten einen Acker und ein kleines Waldstück. Nutznießer der Bodenreform. Auf dem Hof pickten weiße Reichshühner. In dem Bretterverschlag hockten sie auf ihren Stangen in fester Hackordnung. Im Stall eine Kuh und ein paar Schweine. Die

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