Der Hals der Giraffe
dachten nur an diese lächerlich großen Vierzigtonner mit tennisballkleinen Gehirnen, die nicht mal imstande waren, ihre Körpertemperatur zu regulieren.
»Ja, das war ein richtiges Massensterben! Drei Viertel aller Tier- und Pflanzenarten verschwanden. Aber Sie wissen ja: Der Tod des Einen ist die Geburtsstunde des Anderen. Und dass Lebewesen aussterben, ist eines der wichtigsten Merkmale des stammesgeschichtlichen Prozesses.« Die Geschichte des Lebens war im Grunde eine Geschichte des Sterbens. Und jeder Krieg, jede Katastrophe der Beginn von etwas Neuem.
Ein Rundgang. Vor dem Fenster die Thronhäupter der Kastanien. Knospen, kurz vor dem Schlüpfen. An einigen Zweigen hatten sich schon winzige, glänzende Blättchen herausgeschält und hingen nun, erschöpft von den Strapazen ihrer Geburt, schlaff herunter.
»Denn erst mit dem Niedergang der Saurier wurden die Fellträger zur vorherrschenden Wirbeltiergruppe. Der Siegeszug der Säuger begann. Auf einmal war es vorteilhaft, einen Pelz und immerwarmes Blut zu haben, seine Nachkommen lebend zur Welt zu bringen und mit Milch zu säugen. Im dicken Mutterbauch ist die Brut anscheinend besser geschützt als in jeder noch so harten Eierschale. Nestraub ist da unmöglich, aber die Mutter selbst ist natürlich so gefährdet wie bei keiner anderen Tierklasse.« Müttersterblichkeit. Das lebensgefährliche Gebären. Der Tod im Kindbett. Jede Schwangerschaft war ein Risiko. Tiefgreifende Veränderungen, die den Körper schwächten. Gemeinsamer Blutkreislauf. Zu viele Genussgifte gefährden den Fötus. Die Geburt war eine einzige Verletzung. Allein der Blutverlust. Die Eiablage war ein Kinderspiel dagegen. Tante Martha war gestorben. Beim fünften Kind. Aber damals starb ja auch jedes dritte Kind im Säuglingsalter. Frühe Auslese.
»Auf jedes Lebewesen, das sich im Überlebenskampf behauptet hat, kommen unzählige konkurrierende Organismen, die sich nicht durchgesetzt haben. Wir sind nur hier, weil viele andere auf der Strecke geblieben sind.« Vor ein paar Wochen hatte ein Mann im Stadtbus einen Schlaganfall. Er fuhr den ganzen Tag hin und her, immer wieder zur Endstation bei der Mülldeponie und zurück an den kleinen Hafen in der Stadt. Erst abends, als es ins Depot ging, sah der Fahrer nach ihm. Da war schon lange nichts mehr zu machen. Zwölf Stunden halbtot herumkutschiert. Wenn jeder an sich dachte, war für alle gesorgt.
»Wenn ein Lebewesen stirbt, beginnt normalerweise die Zersetzung. Milben, Asseln und eine Reihe von Mikroorganismen verdauen den Kadaver. Die Hauptaufgabe übernehmen aber vor allem die Pilze! Sie gehören weder zu den Tieren noch zu den Pflanzen. Schon sehr früh haben sie sich von allen anderen abgespalten. Ihnen gehört ein eigenes Reich. Sie sind eine dritte Lebensform!« Nachfahren eines Einzellers wie wir. Pionierbesiedler des Urkontinents.
»Ich rede hier nicht von Pfifferlingen oder hochgezüchteten Champignons, die Sie abends in der Pfanne braten, sondern von jenen Wesen, die dafür sorgen, dass all der Abfall, all das Tote und Abgestorbene, was jeden Tag anfällt, auch wieder abgebaut wird. Es gibt nichts, was nicht von irgendeiner Pilzart zersetzt werden kann.« Sie hatten sich total darauf spezialisiert, die Überreste anderer zu verwerten, sich einzig und allein von dem zu ernähren, was übrig blieb, wenn andere zugrunde gingen, obwohl sie weder Verdauung, noch Sinnesorgane hatten. Ihre Bedeutung konnte gar nicht groß genug eingeschätzt werden. Dabei verkörperten die Destruenten das Grundprinzip des Lebens am konsequentesten. Leben vom Tod anderer. Das taten natürlich alle. Das war das Prinzip alles Lebendigen, auch des noch so hoch entwickelten. Aber das war ja tabu, das wollte wieder keiner wahrhaben.
»Einige wenige Organismen allerdings bleiben von der Zersetzung verschont. Ihre Überreste überdauern in einer Sedimentschicht die Zeiten und zeigen der Nachwelt, was einmal war. Sofern sie bei Ausgrabungen gefunden werden.« Ungewählte Repräsentanten, Stellvertreter ihrer Art. Urzeitliche Zehnfußkrebse in silbern schimmerndem Schiefer, schwarze Koniferen im Ton, Urfische mit dicken Schuppen wie glasierte Keramik. Zwischen Kalkschichten plattgedrückt wie getrocknete Blüten. Vom Gewicht der Zeit zu einem Abdruck gepresst, nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ausgebleichte Körper. Vertrocknete Leichen. Zu Bildern gequetscht. Echte Kunst. Kinderschätze. Der versteinerte Seeigel, den Mutter aus Jugoslawien mitgebracht
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