Der Hals der Giraffe
hatte, ein in gläsernem Bernstein gefangenes Mückenbein. Dutzendweise Donnerkeile im Setzkasten, die Reste ausgestorbener Tintenfische. Von Früchten aus dem Tertiär – klein, schwarz und rund wie Hasenköttel – bis zu komplett erhaltenene Mammuts an der sibirischen Eismeerküste. Tiefgefroren und mausetot. Hatte sie nicht mal mit Claudia diesen Film gesehen, in dem ein Mann im Packeis eingefroren war und Jahrzehnte später wieder aufgetaut wurde? Und dann mussten sie extra für ihn alles wieder so herrichten wie zu seiner Zeit: Dünne Schnauzbärte, Reifröcke und Kutschen im Park. Den Fernseher im antiken Schrank versteckt.
»Nur weil es Fossilien gibt, wissen wir überhaupt von früherem Leben. Sie sind die wichtigsten Beweisstücke für den Prozess der Evolution, die Lehre von der Veränderlichkeit der Arten, ihrer gemeinsamen Abstammung, der ungeheuren Kraft winziger Schritte – über unvorstellbar lange Zeiträume hinweg! Die Tatsache, dass alles Leben miteinander verwandt und nichts voneinander getrennt ist, dass alles zusammengehört, auch wenn es nicht so aussieht.« Eine Theorie ohne Zahlen, Formeln oder Experimente. Wer sie verstand, hatte das Leben verstanden, das Welträtsel gelöst. Darüber hätte Kattner predigen sollen.
»Die Fossilien sind die Zeugen der Evolution, die Brückentiere ihre Kronzeugen.« Ein Indizienprozess. Aber das Verfahren zog sich hin, die Beweisaufnahme würde niemals abgeschlossen sein. Immer wieder wurden neue, uralte Spuren sichergestellt, überraschende Zeugen geladen, unmögliche Tiere: Der Quastenflosser, ausgestorben seit der Kreidezeit, auferstanden von den Toten. Das Schnabeltier, eine ausgedachte Kreatur, die Summe artfremder Einzelteile. Ein säugendes Kloakentier, ein früh abgespaltener Einzelgänger, ein lebendes Bindeglied zwischen allerlei Arten. Ein Wesen aus diesen Kinderbüchern, in denen Kopf, Rumpf und Hinterteil immer wieder neu kombiniert werden konnten: Kleine Knopfaugen, winzige Hörschlitze und einen Entenschnabel, Schwimmfüße und Biberschwanz. Nichts passte zusammen, und es lebte doch. Ein abgestorbener Zweig unter wucherndem Gebüsch oder der tragende Ast im Stammbaum, die entscheidende Gabelung? Eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand.
An der Zimmerrückwand prangte neuerdings das bunte Periodensystem, die Formeln in blinkende Kästchen verpackt. Fein säuberlich. Immerhin aufgeräumt. Der Mensch war immer noch ein Sammler, die einzige Art der Gattung Homo, die überlebte und nachträglich Ordnung schaffen musste, die von Natur aus nicht vorgesehen war. Es gab zwei Strategien, mit dem Leben fertigzuwerden. Es einfach hinnehmen. Oder versuchen, es zu verstehen. Einen Überblick schaffen. Licht ins Dunkel bringen. Einen Weg durch das Dickicht schlagen. So viele Lücken in der Fossilfundkette waren zu schließen, so viele klaffende Abstände zwischen zwei Tierklassen zu überbrücken. Das große Gestrüpp. Die Hoffnung, die Stammesgeschichte noch einmal umzuschreiben. Den verlorengegangenen gemeinsamen Vorfahr zweier Arten aufzuspüren, die fehlenden Zwischenglieder, den gesuchten Urahn des Wals, ein Landtier, das ins Meer zurückkehrte. Immerhin wusste man, wonach zu suchen war. Alles war bekannt, nur unentdeckt. Ein Fundament aus verborgenen Zeugnissen.
Fossile Bruchstücke, neu zusammengesetzt. Ein paar Knochen im Scheinwerferlicht. Grinsende Schädel, die immer größer werden. Wieder ein paar Kubikzentimeter mehr Platz für die Hirnmasse, das höchste aller Eingeweide, gefährlich überschätzt. Vier Säugetierskelette bei der Menschwerdung. Der affenähnliche Vorfahre, der sich aufbäumt und den Pelz ablegt. Die Kletterfähigkeit gegen das Stehen auf zwei Beinen tauscht. Ein Paar platte Füße. Dafür werden die Hände frei. Die Arbeit kann beginnen. Wülste über den Augenbrauen. Breite Kiefer. Das Bild eines am ganzen Körper rasierten Affen. Er sah aus wie ein alter Mann. Unsere einzigen noch lebenden Verwandten. Schimpansen vorm Spiegel, Gorillas im Nebel. Vielleicht stammten die Affen ja von uns ab? Über eine Handvoll Knochen gebeugte Ermittler. Ein weiterer Schritt im Dunkeln. Gerippe mit Mädchennamen. Das Halbskelett Lucy, das Fossil Ida: der lemurenartige Ursäuger, ein zusammengekauerter Kleinprimat mit feuchter Nase, ausladendem Katzenschwanz und zwei verkrüppelten Vampirhändchen. In Fötusstellung. So hat man ihn gefunden. Zusammengerollt. Bedürftig. Zum Erbarmen. Der gesuchte Vorfahr? Heiß ersehnt,
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