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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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alles mit ihr machen. Alles, was sollte das sein? Was wollte sie denn von ihr? Die Straußensilhouette auf Wolfgangs Visitenkarte. Die Schlüssel, die Bonbons. Noch war gar nichts passiert. Bisher hatte sie noch niemand gesehen. Was würde sie denn mit ihr machen wollen? In den Wald, auf Hochstände, in die Sölle. Hand in Hand. Ob sie wollte oder nicht. Einsperren. Aussetzen. Irgendwo. Einfach nur so. Kindesentführung. War sie überhaupt noch ein Kind? Auf jeden Fall minderjährig. Nicht mal besonders hübsch. Sie war ihr ausgeliefert. Wer hatte hier wem eine Falle gestellt? Wieso nahm sie eine Schülerin mit? Was kam als Nächstes? Sie konnte sie ja schlecht hier hinauswerfen. Sie hatte sich wohl getäuscht. Vortäuschung falscher Tatsachen. Mitarbeit ungenügend. Sie interessierte sich für nichts. Sie war nicht besser als alle anderen. Starrte nur so vor sich hin. Geistlos. Machte alles mit. Sollte sie doch! Sie an einen Baum fesseln. Sie dazu zwingen, genau hinzusehen. Endlich einmal Antwort zu geben. Vielleicht würde ja ein Rehkitz vorbeikommen. Das hatte sie davon. Den Mund stopfen, damit sie nie wieder was sagt. Wie sie einfach so dasaß. Atmete. Als ob nichts wäre. Es war ja auch nichts. Es gab nichts mehr zu sagen.
    Draußen die strahlend weißen Windräder, unermüdlich kreisend. Auf einem getränkten Feld sogar ein paar verirrte Schwäne. Grell leuchtender Müll in Buchsbäumen, Plastetüten im Gebüsch. In der Gartenkolonie blühten schon flammend die Wildtulpen. Vorm Autohaus flatternde Fahnen. Die zarten Schatten der Zweige auf den Fassaden.
    Ihre Nische auf dem Lehrerparkplatz war frei wie immer. Sie zog die Handbremse an. Erika löste den Gurt, griff nach dem Rucksack, stieg aus, warf die Tür zu. Viel zu laut.
    »Guten Morgen!« Auch das noch. Die Schwanneke, die auf ihrem roten Fahrrad angerollt kam.
    »Grüß dich, Inge.« Sie grinste. Wissend. Sie hatte alles gesehen. In einem Auto. Eine kleine Schwäche. Schluss jetzt. Ein für alle Mal.
    »Guten Morgen.« Heute also nur die Minimalbesetzung. Und der Rest der Truppe noch nicht in Sicht. Wortwörtlich auf der Strecke geblieben. Das war kein Unterricht mehr, das war Nachhilfe. Das hatte in all den Jahren nicht mal ein Geschwader Influenzaviren geschafft. Ein paar Steh-auf-Männchen, geblendet von der Morgensonne. Aber solange die Reflexe funktionierten. Biologieunterricht ging auch zu zweit.
    »Setzen.«
    Dienst nach Vorschrift. Bloß keine Ausnahme mehr machen. Im Theater spielten sie ja auch, solange das Publikum in der Überzahl war. Und dass waren sie immerhin noch, in der Überzahl: Sechs zu eins. Erika und die fünf Hanseln aus der Stadt. Und auf der Bühne stand immer noch sie allein: Frau Lohmark. Also: Vorhang auf.
    »Schlagen Sie das Buch auf, Seite hundertzweiundachtzig.« Auf einer einzigen Seite lag all das vor ihnen, was hinter ihnen lag: Der Marsch des Lebens durch die Zeitalter der Erde, dargestellt als die spiralige Windung eines Schneckenhauses, vom Archaikum bis zum Quartär, vom Nichts bis in die Gegenwart, in seinen unterschiedlichen Entwicklungsstadien und Erscheinungsformen: Schwämme, Algen, Dreilapper, Armfüßer, Wirbellose, Stachelhäuter, Muscheln, Moostierchen, Kopffüßer, Gliederfüßer, Panzerfische, Nacktsprosser, baumhohe Farne, Meerechsen, Riesenlibellen, Steinkohlewälder, segelnde Flugdrachen, langhalsige Riesenechsen, federlose Strauße, Urpferde, Säbelzahntiger, Mammuts und der Urmensch.
    Das Zentrum der Spirale war ein schwarzgrauer Schlund, ein Strudel in die unvorstellbare Vorvergangenheit, ein Mahlstrom in die Tiefe eines Ozeans, aus dem alles erwuchs, neblig und dunkel wie alle Theorien des Anfangs: Haeckels Urschleim, Oparins brodelnde Ursuppe, Millers Uratmosphäre in gasgefüllten Glaskolben. Woher kam das Leben? Alles Gewürm aus fauligem Schlamm. Ein gewaltiger Knall. Elektrische Entladungen, organische Moleküle, Milliarden von Einzellern, die Bausteine des Lebens, der Sprung in die Zeit, in den Raum, der Anfang alles Seins: Und mittendrin eine Zahl.
    »Drei Komma sieben Milliarden Jahre.«
    Ungeheuerlich. Drei Komma sieben Milliarden. Ob sie das sagte oder nicht, war völlig egal. Da war jedes Vorstellungsvermögen gesprengt. Beim besten Willen.
    Im Lehrplan stand: Ein Gefühl für die Zeiträume vermitteln. Als ob Menschen, die noch jedem einzelnen Geburtstag entgegenfieberten, sich für das Alter der Erde interessierten. Sie waren noch zu unerfahren, um zu begreifen, wie verschwindend gering

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