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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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schmerzlich vermisst. Nicht mal eine entfernte Großtante. Indirekt waren wir mit jedem Zellklumpen verwandt, der jemals auf der Erde existiert hatte.





»Blättern Sie bitte eine Seite weiter.« Da war er, der Urvogel, das Reptil im Federkleid, das berühmte Brückentier, Bindeglied zwischen den beiden heute getrennten Klassen. Mit abgeknickten Beinen und gespreizten Flügeln. Zwei Schwingen, der nach hinten gebogene Hals. Plattgedrückt, wie überfahren. Sie hatte es gesehen. Das Berliner Exemplar, das berühmteste aller Fossilien. Im Museum. Hinter Glas. Ein Kind hatte gefragt: Ist das ein Engel?
    »Der Archaeopteryx weist die Merkmale zweier Tierklassen auf: Er hatte ein Gefieder und keinen Schnabel, sondern einen bezahnten Kiefer, Greiffüße mit Krallen, ein verwachsenes Brustbein und eine Wirbelsäule, die bis weit in den Schwanz reicht. Er war nicht größer als eine Taube, aber konnte höchstens so gut fliegen wie ein Huhn. Er krallte sich an Baumstämmen fest und ließ sich ab und an in die Tiefe stürzen oder flatterte von Ast zu Ast. Fliegen konnte man das wirklich nicht nennen.« Eher Vorvogel als Urvogel. Federn zu haben, hieß noch nicht viel. Alle Vögel waren durch eine geflügelte Vorstufe hindurchgegangen. Evolutionsgeschichtlich gesehen war der Archaeopteryx ein Vogel vor der Flugfähigkeit und der Strauß ein Vogel danach. Die Flugreflexe waren immer noch vorhanden, doch es fehlten die harten Schwungfedern, die man beim Fliegen zum Durchschneiden der Luft braucht.
    »Hinweise auf die Stammesgeschichte finden sich natürlich auch im menschlichen Körper. Sie verraten sich in kleinen, scheinbar unbedeutenden Details. Der Wurmfortsatz. Das Steißbein. Die Weisheitszähne.« Verkümmerte Organe, nutzlose Merkmale, die wenig Schaden anrichteten und mitgeschleppt wurden, Souvernirs aus der tierischen Vergangenheit. Die Fossilien waren selbst im Körper vergraben. Der Urmensch hauste in uns.
    »Manchmal gibt es Rückschläge. Dann wird der Mensch von seiner Vergangenheit eingeholt. Bei einigen wenigen Individuen tauchen plötzlich Merkmale auf, die wir eigentlich schon längst abgelegt haben. Zum Beispiel zusätzliche Milchdrüsen ober- und unterhalb der Brüste. Ein Ohr, das spitz zuläuft, wie bei Hunden und Katzen. Ein Steißbein, das wie ein Schwanz über dem Po hinausguckt.«
    Ungläubige Blicke. Dachten wohl, sie erzählte Märchen. Aber das war die Wahrheit. Da mussten wir alle durch. Noch vor der Geburt, schon im Mutterleib mussten wir all das durchleben, drei Komma sieben Millionen Jahre, die gesamte, mühsame Menschwerdung in neun Monaten. Dieser ganze Ballast, der in unseren Knochen steckte. Wir waren Flickwerk, die Summe aller vergangenen Teile, ein Provisorium, das mehr schlecht als recht funktionierte, voll von überflüssigen Merkmalen. Wir schleppten die Vergangenheit mit uns herum. Sie machte uns zu dem, was wir waren, und es ging darum, mit ihr klarzukommen. Das Leben war kein Kampf, es war eine Bürde. Man musste sie tragen. So gut es eben ging. Eine Aufgabe vom ersten Atemzug an. Als Mensch war man immer im Dienst. Man starb nie an einer Krankheit, sondern an der Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die uns nicht auf diese Gegenwart vorbereitet hatte.
    »Anatomisch gesehen sind wir immer noch Jäger und Sammler.« Altmenschen, die in kleinen Gruppen in der Savanne herumlungerten. Die Menschen waren längst nicht an die heutige Zeit angepasst. Sie hingen immer noch in der Altsteinzeit fest. Hinkten hinterher. Erst unsere Nachfahren würden dieser Gegenwart gewachsen sein. Aber die würden auch in einer völlig anderen Welt leben, uns so fremd wie das Leben in der Steinzeithöhle. Draußen schaukelten die Zweige im Wind. Ein Traktor fuhr vorbei und hinterließ erdige Spuren auf dem Asphalt. Wie sie als Kind immer gedacht hatte, dass man die anderen einholen könnte. Warte nur zwei Jahre, dann bin ich so alt wie du.
    Verzweifelte Referendare, die weinend aus der Klasse rannten und sich auf dem Klo einschlossen. Heulkrämpfe und Zusammenbrüche. Bernburgs Burnout. Seit Wochen krankgeschrieben. Eine Diagnose wie ein Triumph. Wichtigtuerei. Ausgebrannt waren sie alle mal. Das gehörte dazu. Dienst an vorderster Front. Wer nicht stark genug war, der hielt es auf Dauer nicht aus. Es war hart gewesen damals, der Anfang. Das große Schulpraktikum am Ende des vierten Studienjahrs. Sprung ins eiskalte Wasser. Die Neuen waren zum Abschuss freigegeben. Die Meute roch die Angst. Jede Woche ließen

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