Der Hals der Giraffe
Auf Leben und Tod. Aber verletzt war niemand. Kein Krankenwagen, kein Tatütata. Es passierte nichts. Und wenn, dann war es nicht wirklich schlimm. Aufgeschürfte Knie. Bis zur Hochzeit war alles wieder gut. So schnell starb sich’s nämlich nicht. Vaters Worte. Von wegen. Er selbst war einfach umgefallen. War ihm alles erspart geblieben. Die sogenannte Wende. Weg vom Licht. Als der Krankenwagen endlich kam, war alles schon vorbei. Mutter dagegen. Jahrelanges Siechtum. Sie starb gleich für ihn mit. Nachträglich, die doppelte Dosis. Dieses Gerede. Wenn ich nicht mehr bin. Das war Erpressung. Ein Trick, um Widerworte zu provozieren. Dass sie im Alter alle so weich wurden. Nebenwirkung der Todesangst. Auf einmal bereuen, was all die Jahre nie in Frage gestellt worden war. Auf den letzten Metern einknicken, klein beigeben. Nur weil die Körperfunktionen nach und nach ihren Dienst verweigerten. Die schlaffen Hände. Haut wie Pergament.
Da war die nächste Haltestelle. Saskia mit ein paar Jungs von der Realschule. Kopfhörer auf. Hände in den Hosentaschen. Bestellt und nicht abgeholt. Die konnten lange warten. Die schwarze Bretterbude hinter ihnen wie eine riesige Hundehütte. Angeleinte Tiere. Genau das waren sie ja. So weit die Kette reichte. Der Radius war abgesteckt. Räumlich, zeitlich. Tag für Tag. Der sandige Boden, festgestampft vom langen Warten. Ein paar Buddellöcher. Vergrabene Knochen.
Da war die Abzweigung. Der gelbe Pfeil in den Wald. Blinker an. Bremsen. Sie bog ein. Die Straße ganz schattig. Kalte Luft. Das Fenster wieder hoch. Die Fichten. Gelbe Nadeln auf dem Waldboden. Stämme vor schwarzem Grund. Die Hand vor Augen. Kein Gegenverkehr. Auf der Flucht. Flucht nach vorn. Ein paar Häuser. Der brüchige Asphalt. In den Löchern stand noch Regenwasser. Wieder ein Gehöft. Zu verkaufen. Kopfsteinpflaster. Das letzte Dorf. Tiefe Zäune, zugezogene Gardinen. Menschenleer. Da stand sie. Sie stand wirklich da. Natürlich. Wo auch sonst? Das Gesicht an der Scheibe.
Tür auf.
»Steigen Sie ein. Der Bus ist liegengeblieben.«
Sie setzte sich, zwang den Rucksack zwischen die Knie, zog die Tür zu, griff nach dem Gurt und schnallte sich an. Der Motor heulte auf. Zu viel Gas. Sie schaute gar nicht her. Kein Wort. Der Storchenbiss. Am Kragen das nach außen gestülpte Futter der blauen Windjacke. Rötliche Flecken auf dem nackten Hals. Die blass schimmernde Kopfhaut unter dem braunen Haar. Nur das Brummen des Motors.
Der ganze Kram im Handschuhfach, in der Ablage zwischen den Sitzen. Als ob da was lag, das sie verraten könnte. Als ob sie werweißwas mit ihr vorhätte. Nur eine Visitenkarte von Wolfgang, ihr dicker Schlüsselbund, ein paar Hustenbonbons. Sanddorngeschmack. Verführung Minderjähriger. Das Radio anmachen? Nein, lieber nicht. Lenkte nur ab. Frische Luft. Das Fenster wieder einen Schlitz weit öffnen. Luft zum Atmen. Jetzt war es besser. Draußen vereinzelte Bäume auf den Feldern.
»Das sind Eiszeitlöcher.«
Jetzt. Endlich drehte sie sich um. Sie gehörte ihr.
»Die Baumgruppen auf den Feldern, diese vermoorten Senken stammen noch aus der Eiszeit. Die sind übrig geblieben, als sich die Gletscher zurückgezogen haben. Und als die Eisbrocken auftauten, haben sie diese Erdlöcher geformt, manchmal sogar Hohlräume unter der Erde. Die LPG hat sie früher immer mal mit Sand zugekippt, damit sie mit den Traktoren schön gerade über die Felder fahren konnten. Aber die nässten immer nach. Die sind so tief, die reichen bis in die Eiszeit. Sie sind einfach nicht trockenzukriegen. Ganz wichtige Biotope, übrigens.«
Erika tat so, als ob sie sich am Schienbein kratzte, unbekümmert wie ein Kind, schamlos. Gab es eigentlich weibliche Pädophilie?
»Haben Sie mal ein Rehkitz gesehen? Ich meine, in freier Natur?«
Jetzt schaute sie demonstrativ aus dem Fenster.
»Nee, wieso?« Endlich ein Wort.
»Als Kind habe ich mal in so einer Baumgruppe ein Rehkitz entdeckt. Im Gebüsch unter einem Hochstand. Wir haben uns direkt angeguckt, das Rehkitz und ich. Es war wunderschön, zum Anfassen nah, vielleicht einen halben Meter weit weg. Ich hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um es zu streicheln. Das Fell war rotbraun mit weißen Punkten. Aber ich habe es natürlich nicht angefasst. Sie wissen das ja sicherlich: Die Mutter hätte es verstoßen. Wegen des fremden Geruchs.«
Sie rutschte auf dem Sitz herum. Die Knie zusammengepresst. Wer weiß? Vielleicht hatte sie sogar Angst. Schließlich könnte sie
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