Der Hals der Giraffe
ihre Lebenszeit, wie nichtig ihr Dasein, wie lächerlich unbedeutend jeder Augenblick war. Sie wussten nichts.
Wenn man Urzeit sagte, sahen sie nur fauchende Dinosaurier und zottelige Elefanten mit blitzenden Stoßzähnen, haushohe Riesenechsen im tödlichen Zweikampf, ein gordischer Knoten aus Landreptilien, die sich im Rücken des Gegners festgebissen hatten. Streitlustige Höhlenmenschen in winterlicher Landschaft, auf Mammutjagd. Schnitzende Neandertaler im Fellkleid am Lagerfeuer. Niemals würden sie lernen, in Jahrmillionen zu denken. Nie verstehen, dass all das Belebte, was sie umgab, das Ergebnis winzigster Schritte über ungeheuerlich lange Zeiträume war. Ein unabsehbarer, chronischer, langwieriger Wandlungsprozess, der sich nicht beobachten, nicht erfahren, sondern nur durch mühsam zusammengepuzzelte Indizien erschließen ließ. Da half auch keine Zahl, keine schwindelnd lange Zahlenkolonne. Da war Endstation. Das Gehirn stieg aus. Und mit Phantasie kam man auch nicht weiter. Damit erst recht nicht.
»Mehrzelliges Leben entwickelte sich erst vor etwa fünfhundert Millionen Jahren. Vorher war das Leben einzellig. Drei Milliarden Jahre lang war die Erde nur von einfachsten, bakterienähnlichen Lebewesen besiedelt.« Bis heute die erfolgreichste Form der Existenz, ein Leben auf Schmarotzerbasis, eine Dauerform, die wahren Herrscher der Welt. Bakterien und Viren hatten sich in all der Zeit nicht weiterentwickeln müssen. Sie waren unsterblich und vollkommen. Ohne Gehirn und ohne Nerven. Nur etwas, das perfekt war, entwickelte sich nicht weiter. Entwicklung war nichts als ein Ausdruck von Unvollkommenheit. Die gerichtete, unumkehrbare Veränderung eines Lebewesens von der befruchteten Eizelle über mehrere Stadien bis zum Tod. Allein, dass der Mensch zur Schule gehen musste, sprach für die Unzulänglichkeit seiner Konstruktion. Fast alle anderen Tiere waren mit der Geburt fertig. Fertig fürs Leben. Ihm gewachsen. Nach ein paar Stunden standen sie schon auf eigenen Beinen. Menschen hingegen blieben ihr Leben lang unfertig. Mängelwesen. Kümmerlinge. Physiologische Frühgeburten, die zur Geschlechtsreife gelangten. Von Natur aus unvorbereitet. Erst am Ende fertig mit dem Leben. Man wurde nur so alt, weil man so unendlich viel zu lernen hatte.
»Ihre Hausaufgabe war gewesen, den einzelnen Zeitaltern Tiere und Pflanzen zuzuordnen. Also Ferdinand: Wie sah es aus im Ordovizium?«
Er räusperte sich. Der Stimmbruch hatte ihn endlich erhört. »Erste Wirbeltiere, Kieferlose …«
»In ganzen Sätzen, bitte.«
»Ähm … Zum ersten Mal Wirbeltiere, kieferlose Fische, Muscheln, Korallen und Seeigel. Und Algen …
»Das sind aber immer noch keine ganzen Sätze.«
»… die Algen, die entfalten sich.«
»Sie haben die Quallen vergessen. Die entfalten sich auch. Die dürfen Sie nicht vergessen. Das ordovizische Meer war voller schillernder Quallen, schon das kambrische. Wie die auf dem Flur.«
»Mhm.« Er nickte wie ein gelehriges Pony.
»Und wie haben wir uns das Karbon vorzustellen, Annika?« Ehe sie noch unruhiger wurde. Fräulein Neunmalklug.
»Da entstehen ausgedehnte Steinkohleurwälder mit Farnen, vierzig Meter hohen Bärlappbäumen und zehn Meter hohen Schachtelhalmen und Riesenlibellen. Und die Urreptilien entwickeln sich. Dazu zählt auch der Fischlurch Ichthyostega. Das war das erste Wirbeltier, das es aufs Land schaffte: Es war …«
»Danke, danke, das reicht schon.«
Die war wirklich die Pest. Menschen, die glaubten, immer alles richtig zu machen, waren das Unerträglichste.
»Und in der Kreide?«
Ein Blick in die Klasse. Mehr waren ja kaum übrig.
»Jakob.«
Heute im Pullunder, sein eigenes Abziehbild.
»Immergrüne …« Poltern auf dem Flur. Die Tür flog auf, und die Horde von der Landstraße fiel ins Klassenzimmer. Offene Jacken, Taschen in den Händen. Mit leuchtenden Gesichtern und Sturmfrisuren, wie nach einer Bergbesteigung.
»Setzen Sie sich auf Ihre Plätze und verhalten Sie sich gefälligst ruhig. Sie haben die Pause, um sich auszutauschen.«
»Also, Jakob!«
Er hüstelte. Starrer Blick in die Aufzeichnungen. »Entstehung von immergrünen Laubwäldern, Entwicklung der Vögel, Blütezeit der Dinosaurier.«
»Und was passiert am Ende mit denen?«
»Die sterben aus.« Seine Stimme war sachlich, aber voller Anteilnahme. Wie ein Bestatter.
»Richtig.« Mehr als neunundneunzig Prozent aller Arten, die jemals auf der Erde existiert hatten, waren ausgestorben. Aber alle
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