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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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sie sich was anderes einfallen. Sie hatten die Macht. Und immer waren sie in der Überzahl. Man selbst allein vor der Tafel. Anfangs noch der Wunsch, in ihr Gelächter miteinzustimmen. Die Seiten zu wechseln. Dazuzugehören. Aber sie lernte schnell. Man musste sich einen Namen machen. Flucht nach vorn. Denn sie würde immer da stehen vor der Tafel, vor der Klasse, allein. Die Tür war zu. Fünfundvierzig Minuten konnten sehr lang sein. Das musste man erst mal überstehen. Die Aufmerksamkeit. Unentwegt lagen sie auf der Lauer, waren nur darauf aus, einen scheitern zu sehen. Wer einen Fehler machte, war für immer verloren. Was das anging, hatten sie ein Elefantengedächtnis. Die Meute war gut vernetzt. Der Ruf, der einem vorauseilte. Nur keinen Fehler machen. Den Spieß umdrehen. Das Allerwichtigste war, gleich zu Beginn streng zu sein. Nachlassen konnte man immer noch. Zumindest theoretisch. Hart sein. Konsequent sein. Keine Ausnahmen. Keine Lieblinge. Unberechenbar bleiben. Schüler waren natürliche Feinde. Die Untersten im schulischen Wirkgefüge. Lohmark war bald jedem ein Begriff.



»Nehmen wir zum Beispiel den Schluckauf. Das ist nichts anderes als ein Relikt der Kiemenatmung.«
    Jetzt hatte sie doch tatsächlich angefangen, sich selbst auf das Brustbein zu tippen.
    »Die Ausführungen mögen vielfältig sein, aber die Baupläne sind sehr überschaubar. Blumen haben fünf bis sechs Blütenblätter, Landwirbeltiere fünf Finger.« Wirbeltiere waren nichts anderes als umgedrehte Würmer. Sie hatten den Darm nach vorn und das Nervensystem nach hinten verlegt. Außen weich, weil sie ein Innenskelett hatten. Der Mensch war ein Zwei-Seiten-Tier. Zwei Augen, ein Herz. Tiere mit Wirbelsäule, aber ohne Rückgrat. Man müsste noch mal ganz von vorne anfangen. Niemand konnte das. Das war die einzige Gerechtigkeit, die es gab. Wenn sich das rumsprach, war es mit der Disziplin vorbei. Dann würden bald alle ankommen und sie Inge nennen. Dreißig Jahre Berufserfahrung für die Katz. Dreißigeinhalb, wenn man genau war.
    Sie schob das graue Polylux-Gerät vor das Lehrerpult und legte die Folie auf die Scheibe. Die Lampe war zu schwach, das Sonnenlicht zu hell. Den Vorhang ein Stück zu. Die Linse vergrößerte nicht nur die Zeichnung, sondern auch den Kreidestaub, der sich auf dem Gerät gesammelt hatte. Immer musste man wischen. Jetzt war alles gut zu erkennen: Sechs Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit rehähnlichen Tieren, die das Laub von den Bäumen fraßen. Große eckige rostbraune Flecken, langer Hals. Und auf jeder Zeichnung wurde er länger. Zwei kurzhalsige Tiere im Savannengras, niedergestreckt, bevor sie ganze Giraffen werden konnten.
    »Wie Sie wissen, leben die Giraffen im Inneren Afrikas, in den Savannen, wo es kurze Regenzeiten und lange Trockenperioden gibt. Der Boden wird dann dürr und karg. Und nur Bäume, die tiefe Wurzeln haben, tragen noch Blätter. Sie sind oft die einzige Nahrung für die Giraffen. Mit gestrecktem Hals erreichen die Tiere eine Höhe von etwa sechs Metern. Die Vorderbeine sind länger als die Hinterbeine, der Hals ist stark verlängert, der Kopf länglich und die Zunge ebenfalls sehr lang. Sie sind hochgradig spezialisiert, ihr ganzer Körperbau, alles ist wie dafür gemacht, Blätter von hohen Zweigen abzuweiden. Wie aber die Giraffe –«
    Ein Klopfen. Wahrscheinlich draußen irgendwo.
    »… wie aber die Giraffe zu diesem langen Hals kam, wurde ganz unterschiedlich …«
    Schon wieder. Es war an der Tür. Was denn?
    »Herein!« Laut und kräftig.
    Die Tür flog auf. Es war Kattner. Wie er dastand. Beinahe förmlich. Sein kalkiges Gesicht. Er kam rein, blieb stehen, nickte zur Klasse. Alle saßen auf einmal ganz gerade da.
    »Entschuldigen Sie, Kollegin.«
    Immerhin siezte er sie vor den Schülern. Besorgter Blick. Was wollte er denn? Wusste er was?
    »Nur ungern …« Räuspern. Hand vorm Mund. »… störe ich Ihren Unterricht, aber …«
    Das war das Ende.
    »Ja?«
    Ihm zuvorkommen. Nicht vor der Klasse. Nichts anmerken lassen. Das hier war ihr Revier. Das Surren des Polylux. Ganz ruhig. Die Hände an die Tischkante. Die abgeplatzten Ränder am Lehrerpult.
    »… können Sie bitte mal mitkommen?«
    Loslassen.
    »Selbstverständlich.«
    Aber die Tasche muss mit. Nichts war sicher. Einfach hinterher. Aufrechter Gang. Erhobenen Hauptes. Nur nichts anmerken lassen. Sicher war nichts. Wie Kattner wartete. Mit gesenktem Haupt. Wollte ihr wohl den Vortritt lassen. Als ob er sie abführte.

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