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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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gefördert! Ihre Ausbildung wird in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt. Natürlich in die gewünschte. Denn die Ausbildung, das ist das A und O! Die äußeren Einflüsse bleiben nicht ohne Folgen. All das wirkt sich auf den Charakter aus, auf Neigungen, Handlung und Körperbau, auf alles. Und alles führt zu etwas. Alles zieht etwas nach sich. Alles ist zu irgendetwas gut. Alles hat seinen Sinn. Ob Leben oder Sterben. Und diese ganze Anstrengung kann ja nicht umsonst sein. Energie geht nicht verloren! Natürlich beeinflusst uns unsere Umwelt. Anpassung ist alles. Und die Gewohnheit schafft den Menschen. Und wenn sich die Umwelt ändert, verändern sich auch die Organismen, die in ihr leben. Es gibt nun mal keine Organismen ohne Umwelt.«
    Es klingelte.
    Aber sie war noch nicht fertig.
    »Natürlich hat es sich also ausgewirkt, wenn sich die Vorfahren der Giraffen unermüdlich nach den Blättern der Akazien gestreckt haben. Über viele Generationen und lange Zeiträume hinweg haben sie diese unglaublich langen Hälse ausgebildet. So wie die Vorfahren des Menschen sich immer wieder über das Steppengras erhoben haben, um nach Feinden oder nach Beute Ausschau zu halten, bis sie irgendwann aufrecht gingen. Jede Generation erntet die Früchte der vorherigen. Alles baut aufeinander auf. Und nur, wenn wir uns bemühen, erreichen wir etwas. Wenn wir aber faul bleiben, verlieren wir die einmal erworbenen Fähigkeiten. Dann verlieren wir alles, was wir uns einmal angeeignet haben. Dann war alles umsonst. Die Muskeln erschlaffen, die Denkleistung nimmt ab. Deshalb müssen wir trainieren, dürfen auf gar keinen Fall aufhören, uns anzustrengen, zu bemühen, zu lernen und das Erlernte zu wiederholen. Wenn alle ständig überall Unterstützung bekommen, ist niemand mehr gefordert, für sich selbst zu sorgen. Jeder Einzelne von uns muss sich strecken. Alles ist möglich, wenn wir uns nur wirklich anstrengen.«
    Was erzählte sie da eigentlich? Sie musste sich hinsetzen. Völlig erschöpft.
    »Keine Hausaufgaben. Sie können gehen.«
    Wie erschlagen.
    »Sport frei.« Die Mädchen in einer Reihe. Augen geradeaus. Wie sie blinzelten. Die Sonne.
    »Heute spielen wir Völkerball – zur Verbesserung Ihrer Kondition. Bilden Sie bitte zwei Gruppen.«
    Schwindel. Sie musste sich schon wieder hinsetzen. Eine Bank in Reichweite. Beine ausstrecken. Jetzt ging es besser. Die Mädchen wählten. Dass Beliebtheit immer vor Sportlichkeit ging. Einwurf. Das Spiel begann.
    Das Leben war ziellos und zufällig, aber zwangsläufig. Theoretisch war alles möglich. Aber praktisch nichts. Man malte sich was aus. Und dann war es doch jeden Tag nur dasselbe. Den Umständen entsprechen. Den Umständen entsprechend. Dass es immer so lange dauerte, bis sich was änderte. Und wenn sich wirklich was änderte, dann war es auch falsch. Dann ging alles viel zu schnell. Ob ein System schlechter war als das andere, war rückblickend nicht auszumachen. Eines hatte sich als das geeignetere erwiesen. Die Natur machte keine Sprünge. Die Geschichte schon. Wenn man nur lange genug auf denselben Fleck starrte, wurde einem schlecht. Jede Begebenheit ließ sich nur als Geschichte erzählen. Lauter einzelne Schritte, die sich addierten. Denn nur anhand einer Reihe, nur hintereinander, eins nach dem anderen, eins aus dem anderen, nur so ließ sich Naturgeschichte erzählen. Primaten waren visuell orientierte Säugetiere. Sie waren Augenmenschen. Von der Amöbe zum Affen. Von der Mücke zum Elefanten. Eine Kette des Seins, der Aufstieg der Menschheit. Eine Abfolge von Ereignissen, lauter Zwischenstufen, ein Leben im Unfertigen, ein Leben im Noch-Nicht. Was war schon Erfolg in der Evolution? Die Karten wurden immer wieder neu gemischt. Wer das richtige Blatt hatte, gewann.
    Die Mädchen nahmen Aufstellung. Der Ball flog. Lasch. Kein Wunder, dass niemand abgeschossen wurde. Wie sie Reißaus nahmen. Sich an den Rand des Spielfelds drängten. Werfen, das war Technik. Das Ziel fest im Visier. Am besten auf den Bauch. Die Dicken zuerst. Zu viel Angriffsfläche. Mit einem Schuss erlegen. Treffer. Und raus.
    Immer musste man sich entscheiden: Angreifen, flüchten oder verharren. Reines Instinktverhalten war das Erfolgsmodell. Man müsste die natürlichen Instinkte wiederherstellen. Riechen wie vor drei Millionen Jahren. Noch einmal auf vier Pfoten laufen, im Vierfüßlergang. Ein Rückschritt, der auf einer höheren Stufe sich wieder als Vorteil entpuppen würde. Spätere Gewinne,

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