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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Das tat er ja. Woher sollte er was wissen? Der Verschluss ihrer Tasche schnappte zu. Die Folie mit den Giraffen noch einmal gerade rücken. Zur Tür.
    Geraune. Wer flüstert, der lügt.
    »Stillarbeit. Ich bin gleich wieder da.«
    Lange würde das ja nicht dauern. Vielleicht ja doch. Aus und vorbei. Kein Wiedersehen. Tür zu.
    »Was denn?«
    »Wart’s ab.«
    An der Wand die Quallen und die Seerosen. Sie lief hinter ihm die Treppe hinunter. Sein Schritt schnell, als ob er es nicht erwarten konnte. Wie er ihr die Tür öffnete, ohne sie anzusehen. So warm war es gar nicht. Sie hätte sich den Mantel überziehen müssen. Die Luft, frisch und kühl. Am Hals ganz kalt. Kattner vorneweg. Nicht ausgelastet, seit ihm die Ansprachen verboten worden waren. Beschwerden beim Elternabend und dann die Weisung der Schulamtsleiterin. Unzulässige Pausenverkürzung. Irgendwas musste passiert sein. An der Regionalschule war letztes Schuljahr ein Lehrer suspendiert worden. Landserlieder im Musikunterricht. Feuchtfröhliche Runden. Garantiert nicht jugendfrei. Die kahle Stelle auf seinem Kopf. Haare, die sich in seinem Nacken kräuselten. Vielleicht ein Anruf? Aus Übersee. Dort war es jetzt Mitternacht. Lösegeld. Spuren im Wald.
    Kattners Hand am Türdrücker. Sein strenger Blick. Immer noch ernste Miene. Er öffnete die Tür. Da saß Ellen. Auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch. Die Arme hingen hinunter. Die Haare unordentlich. Ihr eckiges Gesicht. Verquollene Augen. Die hatte sie ganz vergessen. Ein Häufchen Elend.
    Kattner zog sein Jackett aus und hängte es an die Garderobe. Hände in der Seite, Redehaltung.
    »Schon mal was von Aufsichtspflicht gehört?«
    Er ging in die Knie, beugte sich zu ihr.
    »Ellen, erzähl, was die mit dir gemacht haben.«
    Wie auf Kommando fing sie zu weinen an.
    Er kam aus der Hocke hoch. Seufzte.
    »Ist schon gut. Warte draußen. In die Klasse brauchst du heute nicht mehr.«
    Sie schleppte sich hinaus. Grüne Striemen auf dem Anorak.
    Er drückte die Tür hinter ihr zu und schüttelte den Kopf.
    »Das Mädchen ist total verstört.« Er zog die Gardine zur Seite und kippte das Fenster an. Drehte sich um. Holte Luft.
    »Sag mal, ist dir eigentlich klar, was in deiner Klasse los ist? Diese Schülerin wurde seit Wochen, vielleicht Monaten systematisch schikaniert, ja sogar misshandelt.«
    Er setzte sich. War wohl wirklich bestürzt. »Auf dem Jungsklo habe ich sie gefunden. In einem Zustand, das kannst du dir nicht vorstellen.« Der schwarze Stadtgraben hinter den zarten Blättern. Die Fassaden der Häuser am Ring ganz gelb vom Sonnenlicht. Sie sollten jetzt doch wohl abgerissen werden.
    Kattner stand wieder auf. Kam näher.
    »Und du?« Verschränkte die Arme. »Hast du dazu überhaupt nichts zu sagen?«
    Sie überredeten jetzt schon alte Frauen dazu, zusammenzuziehen, damit wenigstens ein Haus erhalten werden konnte. Erzwungene Vergesellschaftung. Wahrscheinlich immer noch besser als Altenheim.
    »Wie lange geht das denn schon so?«
    »Was denn?«
    Jetzt war er richtig wütend.
    »Eine Schülerin aus deiner Klasse wird seit Wochen, vielleicht sogar Monaten von ihren Mitschülern drangsaliert und gequält, und du willst davon nichts bemerkt haben?«
    Man sah immer noch, dass man hier im Osten war. Man würde es noch in fünfzig Jahren sehen. Um eine Beziehung zu verarbeiten, brauchte man doppelt so lang, wie sie gedauert hat.
    »Hörst du überhaupt zu?«
    Ja, sie hörte zu. Hörte jedes einzelne Wort. Keine Katastrophe, nicht mal ein kleiner Meteoriteneinschlag. Einfach nur Verfall. Einen traf es immer. Gruppendynamik. Jedes Wort hörte sie.
    »Das Klima in deiner Klasse ist total vergiftet. Ich hätte wissen müssen, dass du nicht die Richtige dafür bist. Stand ja alles in dem Bericht. Kreidelastiger Unterricht. Mangelhafte Sozialkompetenz. Verknöcherte Persönlichkeit. Aber ich hab gedacht, altes Eisen ist nun mal hart, hab mich sogar dafür eingesetzt, dass du doch noch bis zum Schluss hierbleiben kannst. Aber jetzt hört der Spaß auf. Das wird Konsequenzen haben.«
    Die Luftbildaufnahme an der Wand. Zwei Häuserbuchstaben im Grünen. Der sich schlängelnde Graben, eine Nabelschnur. Ein stehendes Gewässer. Kein Zugang zum Meer. Brackwasser stinkt. Es war zu spät, um sich von Wolfgang zu trennen.
    »Du kannst jetzt gehen.«
    Draußen der Flur immer noch leer. Jede Schulstunde eine Ewigkeit. Diese endlosen fünfundvierzig Minuten. Der Vertretungsplan für die nächste Woche. Bernburgs Ausfall.

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