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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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die alle Verluste mehr als wettmachten. Eine kleine Rückwärtsbewegung, um vorwärts zu kommen. Wie etwas, das feststeckte. Hauptsache, Bewegung. Zurück in die Zukunft. Es gab ja auch Versuche, den Auerochsen zurückzuzüchten. Zumindest ein Rind, das ihm ähnlich war. Mit kräftigem Stiernacken und ausladenden Hörnern. Und zu den Merkmalen kamen die Eigenschaften. Durch Haltung in der Natur. Man müsste all die Tiere auswildern, die in Gehegen ihr Dasein fristeten. Damhirsch, Mu±on, Wisent, Wildpferd, Braunbär, Wolf. Und der Mensch? Ein Tier, das sich selbst domestiziert hatte. Keine biologische Notwendigkeit, sondern ein Produkt des Zufalls. Wer sagte, dass Entwicklung überhaupt etwas Gutes war? Entwicklung war Entwicklung. Sonst nichts. Aber nichts war ohne Reihung zu sagen, nichts ohne Wertung zu denken. Gut, besser, am besten. Selbst perfekte Augen konnten wieder verkümmern. Degeneration war auch eine Anpassungsstrategie.
    Die kleinen Hülsen der klebrigen Kastanienknospen auf dem feuchten Sand. Eine Plastetüte, die der Wind über den Schulhof scheuchte. Die ersten sammelten sich am Außenrand und feuerten ihre Mannschaft an. Das Spiel war noch nicht entschieden. Alles war offen.
    Jedes Ende war ein offenes Ende. Entwicklung kam von Entwickelung. Ein verborgener Gegenstand, der ausgewickelt wurde. Vom Einfachen zum Komplexen. Wie das Kerncurriculum. Die kommende Vervollkommnung, die andauernde Anpassung. Alle Organismen schienen auf ein Ziel zuzustreben: Jeder Urfisch, jeder Urschmetterling, jedes Urreptil wollte im Grunde ein Säugetier werden. Und jeder Homo sapiens ein makelloses Zukunftswesen. Nichts als Konkurrenz trieb uns voran. Und die angeborene Neigung zum Fortschritt. Es ging bergauf. Höher, schneller, weiter. Der Hals der Giraffe. Das Wasser bis zum Hals. Die Kirschen auf den obersten Ästen, die Gletscher Grönlands. Sie brauchten uns nicht.



Die meisten Gesetzmäßigkeiten waren erkannt, die Wälder gelichtet, die Pflanzen erzogen, die Tiere gezähmt. Ein einziges Freilichtmuseum. Wie geordnet doch alles war. An seinem Platz. Organische und anorganische Materie in verschiedenen Aggregatzuständen. Was bedeutete schon Zufall? Man konnte den Zufall nicht mal denken. Von wegen Ziel. Zielgerichtet war nichts. Aber der Tod doch das Ende. Vorläufig. Überall wurde Sinn unterstellt. Alles Vorausgegangene war Bedingung für das Nachfolgende. Hinterher war man immer klüger. Dachte man zumindest. Was würde nach dem Menschen kommen? Es gab kein Zurück. Wenn Ist nicht Seinsollendes war, was denn dann?
    An der Außenlinie erwarteten die Abgeschossenen die Neuankömmlinge. Aus der Schusslinie, aber immer noch dabei. Drei gegen drei. Die Mädchen lachten. Der Ball, der eine von ihnen knapp verfehlte. Ihre Ausweichmanöver waren abenteuerlich. Wie sie sich verrenkte. In die Hocke. Mit der Hand abgestützt. Hintenüber. Jetzt fiel sie doch hin. Eine andere half ihr auf. Weiter ging’s. Der Ball, härter jetzt. Er klatschte gegen einen Oberschenkel. Treffer. Raus.
    Die Sieger waren doch die Fähigsten. Wer siegte, hatte zu Recht gesiegt. In der Natur gab es kein Unrecht. Keine Unfairness. Alles war Natur. In der Natur der Sache. Wer überlebt, hat gesiegt. Nein, eben nicht. Wer überlebt, überlebt. Schluss aus. Was heute die Ausnahme war, konnte morgen die Regel werden. Die Spirale, einmal in Gang gesetzt, war nicht mehr aufzuhalten. Sicher war nur, dass nichts bleiben würde, wie es war. Ein permanenter Wandel. Unaufhaltsam. Unabänderlich. Es war ein dynamischer Planet. Vollkommenheit mochte angestrebt sein, aber vorgesehen war sie nicht. Einen Fortschritt gab es nicht. Fortschritt, das war ein Denkfehler. Alles war unvollkommen, aber nicht hoffnungslos. Die Gegenwart nur ein Durchgangsstadium, der Mensch ein Provisorium. Jedes Ergebnis ein Zwischenergebnis. Alles war vorläufig. Wie Hans immer sagte: Letztlich hat das Wetter recht, nicht die Prognose. Komplexe Arten hatten nie lange überlebt.
    Es blieb spannend. Eine kleine Drahtige sprang über das Spielfeld. Wie ein wildes Tier. Ihre weißen Zähne. Die frische Luft. Wie gut es roch.
    Der Moment beim Baden, damals als sie sich zum ersten Mal diese Frage stellte. Auf dem Küchentisch in der ovalen Zinkwanne. Das heiße Wasser aus dem großen Kochtopf vom Herd, warmes aus der Ofenröhre, kaltes aus der Leitung. Von Mutter abgeschrubbt. Der harte Waschlappen hinterm Ohr, zwischen den Zehen. Im grünen Badewasser das Holzboot, ein Indianerkanu,

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