Der Henker von Lemgo
Stimme: »Gott lässt
uns manchmal Dinge tun, die wir später nicht mehr mit unserem Gewissen
vereinbaren können. Gerade hast du erlebt, was für ein Mensch ich bin, wie
widersprüchlich meine Seele ist. Je mehr Jahre vergehen, umso häufiger denke
ich über das Leben und seine mir von Gott gegebenen Handlungen nach. Glaubst
du, dass ich ein Sünder bin und mich die Hölle erwartet?«, fragte er und
schaute sie an.
»Du bist der beste
Scharfrichter weit und breit. Deine Dienste sind in Detmold, Herford und Lippe
gefragt, doch als Mensch lebst du das gleiche bürgerliche Leben wie wir alle.
Du hast dir nichts vorzuwerfen.«
Dankbar für ihre
Worte fasste er über den Tisch nach ihrer freien Hand und führte die
Fingerspitzen an seine Lippen. »Seit vielen Jahren schon bin ich der Henker von
Lemgo und den hohen Herren als Nachrichter verpflichtet. Mein Vater Diedrich
lehrte mich einst, während der Ausübung meines Handwerks das Herz bei meinem
Weib und meinen Kindern zu lassen. Als ich jung war, gelang mir das gut, denn
ich träumte von Ruhm und Ehre. Ich war ein echter Heißsporn und wollte den
hohen Herren ebenbürtig sein. Fast hätte ich mein Ziel erreicht. Bei den actus torturae habe ich stets erfolgreich funktioniert und
die Delinquenten beim Aufhängen am Galgen sich nie ungebührlich lange quälen
oder sie zappeln lassen. All die vielen Jahre war ich niemals stümperhaft oder
habe Ehre und Ansehen der Obrigkeit verletzt. Vielleicht habe ich mich nicht
immer rühmlich verhalten und die Herren mit meinen Saufereien und Prügeleien
des Öfteren gegen mich aufgebracht, aber warum verfolgen mich jetzt Nacht für
Nacht die Augen der Gequälten und Gefolterten? Warum stören ihre Schreie und
ihre Unschuldsbeteuerungen plötzlich meinen Schlaf? Nicht den hohen Herren,
sondern mir allein gilt ihr letzter Blick, bevor sie durch meine Hand in das
Reich des Herrn eingehen. Viele meiner Freunde sind bereits durch meine Hand
gestorben. Meine Nachbarinnen, die Kaufmannswitwe Böndel, Ilsabein Meyers, die
sich morgens immer Feuer aus meinem Hause borgte, und Pastor Andreas Koch, mein
Beichtvater. Gerade sie haben die größten Zweifel in mir entfacht, die mich nicht
mehr loslassen und mein Gewissen Tag und Nacht peinigen. Was, Maria, geschieht
mit mir, wenn ich einmal vor meinem Richter stehe und es sich herausstellt,
dass ich nur ein willfähriger Handlanger von Kerckmann und Cothmann war? Immer
öfter verfluche ich mein Handwerk und wünschte, der Teufel möge es holen!«
Betroffen hatte sie
ihm ihre Hand überlassen. Seine Worte hatten eine seltsame Wirkung auf sie: Sie
schmerzten. Mit dieser Wendung des Gesprächs hatte sie nicht gerechnet, und sie
litt mit ihm, als sie bemerkte, wie sehr er sich quälte. Zugleich fühlte sie
sich geschmeichelt, dass der geliebte Mann ihr vertrauensvoll sein Herz
ausschüttete. Noch nie hatte sie genauer über das Handwerk des Scharfrichters
nachgedacht und wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass ein Henker in
seelische Konflikte geraten könnte. Einerseits war er für sie wie für alle nur
der Nachrichter, andererseits aber auch ein Mann, der tiefe Gefühle in ihr
weckte. »Ich würde dir so gern helfen, David«, sagte sie mit belegter Stimme, »aber
diese Nöte kannst du nur allein mit dir und Gott ausmachen. Ich hoffe, der Herr
wird Nachsicht mit dir üben.«
Sie verspürte das
heftige Verlangen, ihn zu umarmen und zu trösten, doch er lächelte bereits
wieder. »An diesem Tisch habe ich oft mit meiner Frau Agnesa gesessen. Seitdem
der Herr sie zu sich rief, fühle ich mich nicht nur einsam, sondern auch von
Gott verlassen.«
Gerührt nahm sie
sein Gesicht in ihre Hände. »Du hast sie sicher sehr geliebt?« Maria entsann
sich seiner glücklichen Ehe und seiner großen Trauer, von der die ganze Stadt
gesprochen hatte, als seine Frau verstorben war.
»Agnesa war all die
Jahre meine Geliebte, meine Ehefrau und die Mutter meiner Kinder.« Behutsam
schob er Marias Hände zurück auf den Tisch. »Es gab nichts, was ich auf der
Welt mehr geachtet hätte als sie, aber nach dem Herz eines Scharfrichters fragt
niemand. Wen interessiert schon, wie es tief in ihm drin aussieht? Zu früh hat
mich mein Vater verlassen, und ich musste die Wasemeisterei mitsamt der
Wirtschaft meiner Mutter übernehmen. Die Aufgabe verlangte nach einer tüchtigen
Ehe- und Hausfrau. Bei Meister Jürgen in Schüttdorf fand ich, noch viel zu jung
an Jahren, die Frau, die mir acht gesunde Kinder gebar und der
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