Der Henker von Paris
reihte sich an das andere. Vor einem imposanten Handelsschiff blieben sie stehen. Es trug grosse Wappen aufden Segeln, die goldenen Lilien des Königs auf blauem Hintergrund. Darauf die Krone.
»Florebo quocumque ferar« stand auf einem Segel. »Ich blühe überall dort, wo ich gepflanzt werde.« Der Pater lächelte. »Ich denke, dass die Händler eines Tages bedeutender sein werden als die Krone. Denn sie sind auf allen Ozeanen zu Hause.«
»Und die Kirche?«, fragte Charles.
»Die Kirche? Sie wird einen schweren Stand haben. Bibliotheken werden den Glauben ersetzen. Wenn keine Fragen mehr offen sind, wird es auch keinen Gott mehr brauchen. Religion ist nichts anderes als Nichtwissen.«
Schwarzafrikaner wurden in Ketten über den Quai getrieben. Charles hatte noch nie solche Menschen gesehen. Sie lösten in ihm Neugierde und Furcht aus.
»Schau dir die Leute an, die aus den Schiffen kommen«, sagte Pater Collin, »fällt dir etwas auf?«
»Sie haben schlechte Zähne. Einige bluten aus dem Mund, sie haben Geschwüre an den Lippen. Viele hinken und haben einen merkwürdigen Gang.«
»Sie leiden an Skorbut. Wenn sie länger als drei Monate unterwegs sind und kein Obst und kein Gemüse essen, fehlt dem Körper etwas. Die Schleimhäute beginnen zu bluten, und die Zähne fallen aus. Wenn es eines Tages jemandem gelingt, Nahrungsmittel besser zu konservieren, wird das eine Revolution in der Geschichte der Menschheit sein.«
»Das wird aber auch die Kriege verlängern. Mancher Krieg wird durch fehlenden Nachschub an Nahrungsmitteln gestoppt.«
Der Pater lächelte. Er mochte Charles. Er winkte jemandem zu, der an der Reling eines gigantischen Handelsschiffes stand, das mit fünfzig Kanonen bestückt war. Es war der niederländischen Fleute nachempfunden und verfügte über ein enormes Ladevermögen. Diese Art Schiffe waren etwas schwerfällig und hatten im Kampf gegen die Piraten im Indischen Ozean keine Chance. Deshalb wurden sie stets von kleineren, wendigen Kriegsschiffen begleitet. Der Unbekannte an der Reling winkte zurück und bat den Pater hinauf. Er trug einen orangenen, orientalisch anmutenden Umhang aus leichtem Stoff. Charles folgte Pater Collin. Sie zwängten sich an den Lastenträgern vorbei und bestiegen das Schiff.
»Das ist Pater Gerbillon«, sagte Collin, »er besucht im Auftrag des Königs das Königreich Siam. Er ist ein Jesuitenpater aus Paris.«
Die beiden Patres umarmten sich herzlich. Gerbillon war braungebrannt und von heiterem Gemüt. Seine Bewegungen hatten etwas Affektiertes, so wie es am Hof in Versailles zum guten Ton gehörte. In seinem Umhang, der bis zu den Knöcheln reichte, fiel er auf wie ein Paradiesvogel.
»Das ist Charles, mein bester Schüler«, sagte Pater Collin nicht ohne Stolz. Gerbillon musterte den grossgewachsenen Charles anerkennend. Er hatte dabei ein merkwürdiges Lächeln auf den Lippen. Es war nicht einfach der Schalk in seinen Augen, es war mehr. Etwas Konspiratives. Es irritierte Charles. Einem Menschen wie Gerbillon war er noch nie begegnet. Gerbillon war anders.
»Was haben Sie uns mitgebracht?«, fragte Collin.
Gerbillon zeigte zum Bug. Dort standen ein Dutzend Jugendliche, in lange Gewänder gekleidet. Er winkte sie herbei.Sie eilten auf Gerbillon zu, umringten Pater Collin und Charles und legten die Hände vor der Brust aneinander. Dabei senkten sie ehrerbietig den Kopf. »Das sind meine kleinen Freundinnen und Freunde aus dem Königreich Siam«, erklärte Gerbillon. »Sie werden in Paris am Collège Louisle-Grand studieren. Im Gegenzug studieren junge Französinnen und Franzosen in Siam. Der König wünscht dieses Austauschprogramm.«
»Sind die nicht etwas jung?«, fragte Collin.
»Das täuscht. Sie sind alle schon über sechzehn, aber sie sehen aus wie Zwölfjährige.«
Charles musterte die Jugendlichen. Die dunkle Haut und die langen schwarzen Haare faszinierten ihn. Sie hatten feine Gesichter, und ihre Lippen waren aufreizend schön und voll.
»Werden Sie erneut nach Siam reisen?«, fragte Collin.
»Auf jeden Fall«, sagte Gerbillon mit einem Lächeln, »das Wetter ist warm, die siamesische Küche ist ein Traum, und der König von Siam ist ein begeisterter Schüler. Ich habe ihm alles beigebracht über die Astronomie, wie wir sie hier praktizieren, aber er will noch mehr lernen. Er ist begeistert von den Instrumenten, die wir ihm aus Paris mitgebracht haben. Und es gibt eine Menge zu tun. Wir zeichnen erstmals exakte Seekarten. Das wird die
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