Der Henker von Paris
entschieden, den Leichnam in der Halle aufzubahren, damit die Studenten den körperlichen Prozess unmittelbar nach Eintritt des Todes beobachten konnten. Anfangs schien der Landstreicher zu schlafen, doch schon bald fielen seine Wangen ein, und es bildete sich ein tiefliegendes Dreieck um die Nase herum. Das Blut hatte aufgehört zu zirkulieren und setzte sich. Dort, wo die Leiche auflag, bildeten sich dunkle blaue Flecken.
»Ist das Charles’ Vater«, fragte Antoine mit gespieltem Entsetzen, »der Chevalier Sanson de Longval?« Er schaute zu Charles. »Ich dachte, dein Vater sei Arzt.«
»Welcher Teufel hat dich denn jetzt wieder geritten?«, fragte ein Mitschüler.
»Was ist daran falsch? Ihr wisst alles über meine Herkunft …«
»Wir hören es ja oft genug«, brummte Charles.
»Ja, weil ich nichts zu verbergen habe. Aber Charles, dein Schweigen ist der Boden für die wildesten Spekulationen. Niemand kennt einen Arzt, der … wie heisst dein alter Herr schon wieder?«
»Soll ich denn den ganzen Tag mit meinem Stammbaum herumlaufen?«
»Dürfte schwierig werden. Sehr schwierig. Denn du hast keinen.«
Es war nicht Charles’ Tag. Entnervt behauptete er, man könne den Stammbaum seiner Familie bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. »Einer meiner Ahnen war der Kartograph Nicolas Sanson d’Abbeville. Er hat mehrere Atlanten publiziert und König Louis XIV in Geographie unterrichtet.«
»Sagt mir nichts«, unterbrach ihn Antoine mürrisch.
»Natürlich nicht«, spottete nun Charles seinerseits, »dazu fehlt dir jegliche Bildung.«
Die anderen Schüler lachten.
»Verstehe«, heuchelte Antoine, »wenn man weder Geld hat noch adliger Herkunft ist, braucht man natürlich Bildung. Wenn ich mit meinen Freunden auf die Jagd gehe, will keiner etwas von Geographie hören. Wir reden über unsere Ländereien, unsere Mätressen, unsere Intrigen und all das Zeug, das wir täglich genussvoll in uns reinstopfen. Aber wenn man nichts hat, malt man Landkarten und langweilt seine Umgebung mit nutzlosem Wissen.«
»Neulich hast du den Mund nicht so voll genommen«, sagte Charles, »irgendwann wird einer kommen und dir dein blödes Maul stopfen.«
»Habt ihr es bemerkt? Wir haben einen wunden Punkt getroffen: seine Herkunft. Wer weiss, vielleicht stammt er von den Affen ab, die in Höhlen hausen und rohes Bärenfleisch verzehren. Am Wochenende ist Besuchstag. Ich bin gespannt, ob sein Vater kommt. Kommt die Schwester mit den grossen Titten auch?«
Jean-Baptiste Sanson kam. Es war der Tag, an dem die Eltern der Schüler anreisten, um dem Unterricht ein paar Stunden zu folgen und anschliessend mit den Patres über die Leistungen ihrer Söhne zu sprechen. Zuerst versammelten sich die Eltern im Innenhof und begrüssten ihre Kinder. Zwei Nonnen aus dem benachbarten Kloster servierten Brot und Apfelmost. Charles’ Vater war mit Grossmutter Dubut angereist. Er fühlte sich sichtlich unwohl inmitten der anderen Eltern. Er konnte seine niedrige Herkunft kaum verbergen. Charles sah, wie Antoine seinen alten Vater begrüsste. Dieser schien sehr mürrisch, übelgelaunt. Er raunte Antoine etwas zu. Irgendetwas schien ihm zu missfallen. Antoines Mutter hingegen schien eher entspannt, amüsiert. Sie drückte ihren Sohn mehrfach an die Brust und küsste ihn auf die Stirn. Antoine mochte das nicht besonders. Er löste sich von ihr und ging dann auf Charles zu, der sich mit seinem Vater unterhielt.
»Das ist mein Vater«, sagte Charles. Antoine verbeugte sich knapp und reichte Jean-Baptiste Sanson die Hand.
»Ich bin ein Bewunderer einer Ihrer Vorfahren«, heuchelte Antoine, und Charles wusste gleich, dass nun eine giftige Pointe folgen würde. »Es ist schon tragisch, wie er geendet hat. Zuerst war er königlicher Kartenmacher und unterrichtete Louis XIV in Geographie, später wurde er in den Gassen von Paris erstochen.«
Jean-Baptiste verzog keine Miene. Er war diese Art von Humor nicht gewohnt. Ironie war ihm fremd, Doppeldeutigkeiten suspekt.
»Und Sie sind Arzt«, sagte Antoine und nickte dabei bedeutungsvoll.
Jean-Baptiste blickte irritiert zu seinem Sohn. Grossmutter Dubut verzog enerviert den Mund: »Lasst uns reingehen, ich werde mich hier draussen noch erkälten.«
Im Klassenzimmer sprach Pater Collin über die Dreckapotheke des Mittelalters. Wie man gedörrte Kröten, verbrannte Maulwürfe und die Exkremente von Ziegen pulverisierte. Er sprach über die ersten medizinischen Bücher, die bereits im
Weitere Kostenlose Bücher