Der Henker von Paris
sechzehnten Jahrhundert als Kräuterfibeln erschienen waren. Er geisselte die Humoralpathologie, die auf Autorität und nicht auf Erfolgen oder gar empirischem Wissen basierte. Er geisselte die Unart des Aderlasses, der Klistiere und des provozierten Erbrechens. Er sprach von einer neuen Zeit, die gekommen sei, und von der Notwendigkeit, sich an die richtige Dosis von Heilpflanzen heranzupirschen. »Wer heute forscht, kann morgen die Welt verändern«, schloss der Pater seine Lektion ab.
Die anwesenden Eltern nickten anerkennend. Sie waren stolz, dass ihre Kinder so gescheiten Unterricht erhielten, auch wenn sie selbst wenig davon verstanden.
Antoine stiess Charles mit dem Ellbogen an. »Das war ein sehr bewegender Moment, als ich deinen Vater begrüssen durfte. Sag mal, hat er viele Patienten, ich meine Stammkunden, Menschen, die immer wiederkommen?«
Charles schaute ihn irritiert an. Er suchte nach der Pointe.
»Es ist so«, flüsterte Antoine scheinbar bedrückt, »wenn dein Vater einem Patienten den Kopf abschlägt, dann wird es ganz, ganz schwierig, ihn als Patienten zu behalten. Oder kommen die manchmal zurück mit dem abgeschlagenen Kopf unter dem Arm?«
Charles verschlug es den Atem. Er wollte sich empören, aber liess alles über sich ergehen.
»Ich dachte, es kann nicht schaden, wenn ich meine Bildung vervollständige. Deshalb habe ich in der Bibliothek ein bisschen geforscht. Und ein Onkel von mir, er ist Anwalt in Paris, hat auch ein bisschen geforscht. Warum hast du mir das verschwiegen, Charles? Wir sind doch Freunde.«
Charles suchte instinktiv den Blickkontakt zu seinem Vater. Dann sah er, dass Antoines Vater auf ihn zuging. Er schien sehr aufgebracht. Er sagte irgendetwas und klopfte mit seinem Stock mehrfach auf den Boden. Nun galt die ganze Aufmerksamkeit Antoines Vater. Die anderen Eltern begannen zu tuscheln. Einige umringten Pater Collin.
»Pater Collin«, schrie Antoines Vater plötzlich, »ich bin der Marquis Fouquier de Tinville und möchte hiermit kundtun, dass dieser Mann dort drüben«, er zeigte auf Charles’ Vater, »der Henker von Paris ist.« Ein heftiges Raunen erschütterte das Klassenzimmer. Die Schüler sahen sich verstohlen an und versuchten, einen Blick auf den Henker von Paris zu werfen. »Besucht etwa der Sohn des Henkers die Klosterschule?«, fragte ein anderer Besucher laut. Antoine mimte Bedauern und Betroffenheit, doch dann grinste er schadenfroh übers ganze Gesicht.
»Liebe Eltern«, sprach Pater Collin mit lauter Stimme, »ich bitte um Ruhe. Wir werden die Sache klären.« Dann wandte er sich an Jean-Baptiste Sanson: »Können Sie das bestätigen, Monsieur?«
Charles’ Vater hatte es die Sprache verschlagen.
»Er ist Beamter der Pariser Justiz«, sagte GrossmutterDubut, so laut sie konnte. Dabei überschlug sich ihre Stimme.
»Messieurs«, rief einer der Väter und stellte sich vor die schwarze Schiefertafel, »ich bezahle kein Schulgeld, damit mein Sohn mit dem Sohn des Henkers von Paris unterrichtet wird.«
»Monsieur«, bat Pater Collin versöhnlich, »wir unterrichten den Sohn und nicht den Vater. Der Sohn studiert Medizin und beabsichtigt in keiner Weise, für die Justiz zu arbeiten.«
Nun gab es immer mehr Zwischenrufe, die schliesslich in einen Tumult ausarteten. Die anwesenden Väter protestierten vehement. Pater Collin bahnte sich einen Weg durch die aufgebrachte Besucherschar und ging auf Jean-Baptiste Sanson zu. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr und verliess darauf rasch das Klassenzimmer. Charles beobachtete mit einigem Bangen die Szene. Sein Vater nickte ihm zu und wies mit dem Kopf zur Tür. Charles packte seine Sachen und ging. Die Menge teilte sich, als habe er Pest, Cholera und Pocken gleichzeitig.
»Pater Collin«, fragte Charles beim Abschied im Gang, »kann es einen Fluch geben, der auf einer ganzen Dynastie lastet?«
»Noah verfluchte seinen Enkel Kanaan, den Sohn Hams. Doch im Buch Mose steht geschrieben, dass Gott zuallererst die Schlange und dann den Erdboden verflucht hat. Wenn du an Gott glaubst, glaubst du an Flüche.«
»Und wenn ich nicht mehr an Gott glaube?«
»Dann gibt es keine Flüche mehr. Dann wirst du ein Suchender in der endlosen Wüste.«
Im Innenhof wartete Antoine, er hatte das Klassenzimmer, von Charles unbemerkt, ebenfalls verlassen. Dieser ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. »Siehst du«, rief ihm Antoine nach und folgte ihm einige Schritte, »Geld ist alles. Ohne Stammbaum bist du nichts. Denk daran,
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