Der Henker von Paris
wischen, doch Grossmutter Dubut kam ihr zuvor und fuhr dem Gelähmten mit einer groben Handbewegung über den Mund. Dann streifte sie den Geifer an seinem Oberarm ab und liess ihre Hand dort ruhen, als wollte sie damit demonstrieren, dass dieser Mensch ihr allein gehörte.
»Ich dachte anfangs wie du«, sagte Jean-Baptiste mit schleppender Stimme, »ich dachte, die Aufgabe sei zu schwer für mich. Und das viele Blut …«
»Das Blut macht mir nichts aus«, sagte Charles, »ein Arzt muss den Anblick von Blut ertragen können.«
»Was ist denn dein Problem?«, schimpfte Grossmutter Dubut. »Dann bist du ja geradezu prädestiniert für den Henkerberuf.«
Jean-Baptiste bewegte unwirsch die linke Hand, um Grossmutter Dubut zum Schweigen zu bringen. Sein Gesicht lief rot an. Er versuchte, den Kopf zu drehen.
»Ich bin ja schon still«, sagte Grossmutter Dubut und fuhr mit ihrer Hand ein paarmal über seine Schulter.
»Charles«, sagte der kranke Mann mit beinahe zärtlicher Stimme, »auch ich fürchtete mich davor. Ich floh in die Neue Welt, um dem Schicksal zu entkommen. Doch es holte mich ein und brachte mich auf ein verwunschenes Gehöft. Dort lernte ich deine Mutter kennen. Ihr Vater, Meister Jouenne, instruierte mich sehr genau und half mir, das Unmögliche zu schaffen. Und ich darf sagen: Ich tat es mit Stolz und zur Zufriedenheit der Justiz. Und wenn mich diese verfluchte Krankheit …« Jean-Baptiste wollte erneut eine heftige Bewegung machen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Grossmutter Dubut warf Charles einen bösen Blick zu, als trüge er die Schuld an diesem Elend.
»Ich möchte Arzt werden«, erwiderte Charles. Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm, seiner gesamten Familie zu trotzen. »Ich möchte die Menschen heilen, Vater, nicht erwürgen, hängen, foltern, köpfen, vierteilen. Ich will heilen, nicht töten.«
»Auch der Henker ist ein Arzt«, sagte Jean-Baptiste, »er schneidet die kranken Teile unserer Gesellschaft ab. Er kuriert unsere Gesellschaft und macht sie gesund. Im Auftrag der Justiz. Im Auftrag des Königs.«
Charles suchte fieberhaft nach einer Entgegnung, aber ihm fehlten angesichts der Argumente seines Vaters die Worte. Er begriff, dass sein Vater nicht mit sich handeln liess. Er wollte ihn überzeugen. Er wollte nicht debattieren.
»Charles«, fuhr Jean-Baptiste fort, »es gibt nur zwei erbliche Ämter in diesem Königreich. Das des Herrschers und das des Henkers. An das Blut wirst du dich gewöhnen.Und wenn du es nicht aus Überzeugung tust, dann tu es deiner Familie zuliebe. Schau uns an, Charles, mich, deinen Vater, deine Grossmutter und all deine Geschwister. Wenn du das Amt ablehnst, stürzt du uns alle in Armut und Hunger. Denn einem Sanson bleibt die Welt bis ins letzte Glied verschlossen. Wir haben gar keine Wahl, Charles. Unsere ganze Hoffnung, unsere Zukunft liegt in deinen Händen. Deine Brüder sind noch zu jung, um das Amt anzutreten. Du bist der Älteste. Versuch es doch wenigstens!«
Grossmutter Dubut trieb es die Zornesröte ins Gesicht. Beherrscht, aber zunehmend wütend über ihren Enkel, hatte sie ihren Sohn sprechen lassen. »Da draussen hungern die Menschen und sterben wie die Fliegen«, stiess sie nun vorwurfsvoll hervor, »und wenn einer Arbeit hat, kriegt er dafür dreihundert Livre im Jahr – falls er so lange Arbeit hat. Dreihundert Livre! Aber das Amt des Henkers bringt zehntausend Livre im Jahr. Zehntausend! Weil es ein besonderes Amt ist. Weil nicht jeder in der Lage ist, es auszuführen. Wenn du dieses Amt ablehnst, werden morgen die Henker aus der Provinz ihre Bewerbungen einreichen. Jeder will Monsieur de Paris werden.«
»Nur du nicht!«, schrie einer seiner Brüder vorwurfsvoll, und die anderen Geschwister stimmten in diesen Chor der Zornigen ein. Nur Dominique schwieg. Sie hielt stets zu Charles.
»Ich kann nicht, Grossmutter. Ich kann niemandem Schmerzen zufügen …«
Plötzlich herrschte eine bedrückende Stille. Jean-Baptiste wurde unruhig. Besorgt legte Grossmutter Dubut beideHände auf seine Schultern und atmete tief durch. Er gab seiner Mutter ein Zeichen stillzuhalten. Dann wandte er sich erneut an seinen Sohn: »Charles, das Leben hat es nicht immer gut gemeint mit uns. Wir haben vieles gemeinsam ertragen. Umso mehr wollte ich deinen Wunsch, Arzt zu werden, respektieren. Ich habe dich nach Rouen geschickt, dann an die Universität Leiden. Das war nicht ganz billig. Wir alle haben uns das Schulgeld vom Essen abgespart.
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