Der Henker von Paris
zurückzuerhalten von dem, was man im Begriff war ihm wegzunehmen. Und man war im Begriff, ihm alles wegzunehmen, was ihm etwas bedeutete. Zum Trost nahm er ein paar lausige leere Hefte mit. In diese wollte er fortan alles niederschreiben, was sich ereignen würde, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte, Arzt zu werden. Er stahl diese Hefte, weil er sich sehr wohl bewusst war, dass es in Paris niemanden gab, dem er sein Leid hätte klagen können. Ausser diesen leeren Heften. Denn er würdeweiterhin ein Fremder unter den Menschen sein. Er wolle über sich schreiben, beschloss er, denn die wenigsten Menschen ahnen, wer sie wirklich sind. Es sind die Prüfungen des Schicksals, die einem plötzlich und oft schmerzhaft vor Augen führen, wer man wirklich ist und wozu man fähig ist. Die meisten Menschen behaupten von sich, sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun, und plötzlich überraschen sie sich dabei, wie sie einem anderen Menschen bei lebendigem Leibe mit glühenden Zangen das Fleisch von den Knochen reissen. Das sind Dinge, die man anderen Menschen nicht leichtfertig anvertraut. Es sind Dinge, die man schweigend in ein Heft niederschreibt. Wer keine Freunde hat, sollte wenigstens ein leeres Heft haben.
5
Während die Postkutsche über die staubige Landstrasse holperte, spürte Charles erneut diese unendliche Traurigkeit in sich hochsteigen. Das war die Krankheit der Sansons, ein Teil der Erbsünde. Zuerst wurden sie traurig und schwermütig, später erlitten sie Hirnschläge und wurden gelähmt. Und blieben am Leben, um zu leiden.
Von weitem sah Charles die graue Dunstglocke, die über Paris hing. Dutzende von Kirchtürmen ragten aus der düsteren Dreckwolke heraus, die Hunderttausende von Herdöfen in den Himmel pufften. Doch die monumentalen gotischen Türme der Kathedrale Notre-Dame überragten die weit über hundert Kirchtürme wie ein Papst seine Kardinäle.
Je mehr er sich der Stadt näherte, desto gewaltiger wurde diese Beklommenheit, die Charles die Kehle zuschnürte. Er hasste Paris. Leiden hatte er geliebt. Leiden war die Stadt der Kultur und der Wissenschaft. Rembrandt hatte dort gelebt, aber auch Antoni van Leeuwenhoek, der Entdecker des Bakteriums. Die offene, unkomplizierte Art der Holländer war ihm von Beginn weg sympathischer gewesen als die etwas rüde und eingebildete Art der Pariser. Er hasste Paris aber auch, weil es die Stadt seiner Grossmutter, Marthe Dubut, war, die wie diese grausamen, in Stein gehauenen Dämonen an der Balustrade von Notre-Dame darüber wachte, dass der Fluch, der auf der Sanson-Dynastie lastete, von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ihr Ehrgeiz sollte der Ehrgeiz aller Sanson-Kinder sein. Sie hatte die Hoheit überdie Gedanken übernommen. Sie allein wusste, was richtig oder falsch war, obwohl sie noch nie ein Buch gelesen oder sich eine abweichende Meinung bis zuletzt angehört hatte. Das ist die Tragik der Menschen, die stets alles zu wissen glauben, dachte Charles. Sie ahnen nicht, wie wenig sie wissen.
Eines Märzmorgens im Jahre 1757 passierte die Postkutsche die Zollmauer der Stadt Paris und hielt im Handelshof dahinter an, inmitten von Hunderten von Tagelöhnern, Kriegsinvaliden, verarmten Bauern und abgemagerten Landmädchen. Sie suchten nicht ihr Glück in Paris, denn sie wussten, dass Leute wie sie kein Glück haben. Sie suchten dem Elend auf dem Land zu entkommen. Sie alle wurden von den sichtlich übermüdeten Soldaten rüde und lautstark zurechtgewiesen und wie Vieh sortiert und vorangetrieben. In diesen Zollhöfen kreuzten sich Kutschen aus allen Teilen Europas, und man tauschte Nachrichten und Gerüchte aus. An diesem Tag sprachen alle von Robert-François Damiens, der angeblich den König, Louis XV, mit einem Messer verletzt hatte. Eine für alle unfassbare Tat. Wie konnte es jemand wagen, königliches Blut zu vergiessen? Stand der König Gott nicht am nächsten?
Wer nach Paris wollte, musste eins der vierundfünfzig Zolltore passieren und sich von den Soldaten peinlich genau befragen und durchsuchen lassen. Zahlreiche Händler warteten vor ihren Kutschen, Karren und Fuhrwerken ungeduldig auf die Abfertigung ihrer Waren durch die Gehilfen der Steuerpächter. Diese hatten dem König das Amt abgekauft und setzten nun nach Gutdünken die Einfuhrsteuern fest. Die Steuerpächter erhöhten die Abgaben ohne Schamund trieben dadurch die Nahrungsmittelpreise derart in die Höhe, dass ein Tagelöhner bereits die Hälfte seines Lohnes opfern
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