Der Henker von Paris
musste, um einen einzigen Laib Brot zu erwerben. Für die Armen bedeutete eine Verdoppelung der Nahrungsmittelpreise das Ende, für einen Adligen, der eh keine Steuern bezahlte, spielte es keine Rolle. Er hatte immer genug.
Es mochte Leute geben, die die grösste Stadt Europas schön fanden, dachte Charles. Doch wenn man kein Geld hatte und hungerte, war jede Stadt hässlich.
Nach fast einer Stunde Wartezeit konnten Charles und die übrigen Fahrgäste die Fahrt über die Champs-Elysées fortsetzen. Die Allee hatte sich nun zur Avenue der vermögenden Adligen gemausert, die sich herrschaftliche Stadthäuser mit pittoresken Parkanlagen errichten liessen. Die Postkutsche hielt beim Tuilerienpalast, dem königlichen Stadtschloss. Von hier aus war es noch ein gutes Stück zu Fuss bis in die Rue d’Enfer.
Charles wollte nicht zurück. Alles in seinem Innern sträubte sich. Er hätte schreien können, aber er blieb stumm. Ratlos stand er nun vor dem Schloss und überlegte, wie er vorzugehen habe. Einige Soldaten verscheuchten eine Ansammlung von Tagelöhnern und gaben Charles ein Zeichen, ebenfalls zu verschwinden. Er spazierte zur Seine und trödelte dann dem Ufer entlang Richtung Bastille. Er konnte es wenden, wie er wollte: Er hatte zu seiner Familie zurückzukehren. Auf sich allein gestellt, hätte er gar nicht das Geld gehabt, sein Medizinstudium in Leiden fortzuführen. Ohne Familie war er nichts. Wie ein Fisch ohne Wasser. Wie ein Wolf ohne Rudel. Die Blutsbande waren das Einzige, was Bestand hatte, was Sicherheit bot. Und werdie Autorität des Leitwolfes nicht respektierte, zog sich den Zorn des ganzen Rudels zu. Wütend und widerwillig entschloss sich Charles, den Tatsachen ins Auge zu blicken und in die Rue d’Enfer zurückzukehren. Wie von unsichtbarer Hand getrieben, schritt er vorwärts, und er fragte sich, ob es überhaupt einen freien Willen gab oder ob er lediglich getrieben wurde von Kräften, die er nicht verstand, und Pläne erfüllte, die ihm nicht bekannt waren. Charles verlor sich allmählich in den verwinkelten Gassen. Das Pflaster war so stark mit eingetrocknetem Schlamm und Dreck überzogen, dass man an schattigen Orten bis zu den Knöcheln darin versank. Streunende Hunde und Katzen stritten sich um die blutigen Abfälle der Schlachthöfe, die man einfach auf die Strasse hinausschmiss. Händler trieben ihre störrischen Tiere mit Hieben in Richtung Les Halles, während Dungsammler die mit Stroh und Abfällen vermischten Kothaufen einsammelten und auf ihre Esel luden. Dafür brauchten sie eine Bewilligung, die sie in den Zollhöfen einzulösen hatten. Paris verkaufte selbst seine Scheisse. Paris hatte sich verändert. Paris war gereizt, müde und ohne Hoffnung. Zehntausende von Menschen waren in den engen Gassen unterwegs und kämpften sich durch die verzweifelten Gestalten, die irgendwo Arbeit für den Tag suchten, um ein Stück Brot zu kaufen. Keiner hatte Erbarmen mit dem anderen. Das eigene Schicksal war schwer genug. Ohne Mitgefühl trat man auf die verkrüppelten Beine der Bettler am Strassenrand. Ungerührt hetzte man an Kirchenstufen vorbei, auf denen ausgesetzte Neugeborene lagen, die schrien, hilflos mit den Armen ruderten und von Strassenkötern, die keine Scheu mehr kannten, beschnuppert und geleckt wurden. An denWänden hingen Plakate, die Louis XV und seine Mätresse, Madame de Pompadour, verspotteten.
Der Königsattentäter Robert-François Damiens war das beherrschende Thema auf allen Strassen und Plätzen. Die Menschen sagten, er habe den König dafür bestrafen wollen, dass das Volk Hunger leide. Und sie stellten die Frage, ob es möglich sei, König eines hungernden Volkes zu sein, ohne es zu verachten. Es wurde erzählt, Damiens habe sich tagelang in den Gärten von Versailles versteckt. Als die Nacht hereinbrach, sei er unter das Gewölbe einer Treppe gekrochen und habe auf die Ankunft des Königs gewartet. Als Louis XV mit seiner Entourage die Treppe hinunterstieg, sei er aus seinem Versteck hervorgesprungen, habe sich zwischen den Musketieren hindurchgeschlängelt und den König mit seinem Dolch leicht verletzt. Einige behaupten, Robert-François Damiens habe geschrien: »Für die Freiheit!«, andere behaupteten, er habe gebrüllt: »Im Namen des Volkes!«, aber keiner wusste es so genau, denn keiner von denen, die das erzählten, war dabei gewesen. Seitdem waren Wochen vergangen, und Robert-François Damiens wurde in einem Pariser Verlies täglich befragt und der Folter
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