Der Henker von Paris
Aber nun hat Gott anders entschieden. Das war nicht unser Wunsch, Charles, es ist nicht unsere Schuld. Wovon sollen wir denn jetzt leben?«
Totenstille im Raum.
»Die Drecksarbeit werden meine Knechte verrichten«, fuhr Jean-Baptiste nach einer Weile fort. Seine Stimme klang nun härter, entschlossener. Er sprach so, als hätte Charles längst eingewilligt. »Du wirst kein Blut sehen, Charles, du wirst kein Schafott besteigen. Du wirst am unteren Ende der Treppe zum Schafott stehen und mit deiner Anwesenheit die Rechtmässigkeit der Vollstreckung der Urteile bezeugen. Ist das zu viel verlangt?« Den letzten Satz schrie er hinaus, und sein Mund verzerrte sich zu einer Fratze. Wieder wollte ihm Dominique diskret den Speichel vom Kinn wischen, doch Grossmutter Dubut kam ihr erneut zuvor und sagte rasch: »Ich habe bereits mit Meister Prudhomme gesprochen, er ist ein Meister seines Fachs. Er wird an deiner statt die Arbeit verrichten. Bis du ein Mann bist.«
»Bis einer meiner Brüder alt genug ist?«, fragte Charles misstrauisch.
»Monsieur de Paris«, flüsterte Jean-Baptiste. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann verzerrten sich seine Zügeerneut, und Speichel rann aus einem Mundwinkel. Dominique erhob sich. Sie hatte bis dahin geschwiegen. Sie ging langsam auf Charles zu und nahm ihn zärtlich in den Arm. Sehr zum Missfallen von Grossmutter Dubut. Dominique fuhr Charles sanft über den Rücken. Er liebte seine Schwester über alles. Selbst in Leiden sehnte er sich danach, an ihre warme Brust gedrückt zu werden und den Duft ihres Körpers einzuatmen. Sie erinnerte ihn an seine Mutter.
»Mein lieber Charles«, sagte sie mit zärtlicher Stimme, »das Amt erhältst du direkt vom König. Vom König persönlich. Deinen Lohn erhältst du vom Kanzler. In der Armee erhalten nur die besten Offiziere diese Gunst. Charles, es ist eine grosse Ehre, dieses Amt in so jungen Jahren ausüben zu dürfen. Und ich verspreche dir, jetzt, da du wieder bei uns wohnt, werden wir jeden Abend zusammen Klavier spielen. Du hast Talent für die Musik. Sie wird dich immer begleiten. Du wirst sie brauchen, wenn du abends nach getaner Arbeit nach Hause kommst.«
Charles schaute seine Schwester flehend an, doch ihr Lächeln liess seinen ganzen Widerstand zusammenbrechen. Er liebte sie einfach zu sehr. Sie war noch so jung und doch schon so klug und belesen, er hätte ihr den ganzen Tag zuhören können. Wenn er in Rouen oder Leiden nachts wach gelegen hatte, hatte er die Klavierstücke gehört, die sie ihm beigebracht hatte. Seine Vorstellungskraft war so stark, dass er glaubte, sie sitze mit dem Klavier an seinem Bett und spiele nur für ihn. Charles fragte sich manchmal, ob andere Menschen in ihren Köpfen auch Bilder und Melodien erzeugen konnten, die so real waren, dass man sie kaum als Phantastereien abtun konnte. Aber das war keine besondersschöne Gabe der Natur, denn auch schreckliche Visionen blähten sich in Gedanken zu furchterregenden Monstern auf. Charles wusste, dass das die Krankheit der Sansons war. Der Feind im eigenen Kopf.
»Du bist ein Sanson«, krähte Grossmutter Dubut. Nach der melodiösen, warmen Stimme Dominiques klang ihre Stimme tatsächlich wie das Krächzen eines Dämons. »Die Sansons sind stark, weil sie stark sein müssen«, sagte sie bitter. »Und sie heissen Sanson, weil sie schweigend ihre Pflicht erfüllen. Sans son. Ohne Ton.«
Alles, wofür Charles bisher gelebt hatte, zerrann in diesem Augenblick vor seinen Augen. Die Trommelwirbel am Fusse des Schafotts sollten fortan die Lehre vom Bakterium und von den Blutkreisläufen ersetzen. Und das Schreien und Flehen der Verurteilten sollte Vivaldis Stravaganza übertönen. Seine Geschwister stürmten auf ihn zu und umarmten ihn freudestrahlend. Es war ihm nicht bewusst, dass er genickt hatte. Die Zuneigung seiner Geschwister rührte ihn, ihr Enthusiasmus, ihre Begeisterung schmeichelten ihm. Das war seine Familie. Er war wieder zu Hause. Da stand er nun, Charles-Henri Sanson, der Vierte der Dynastie, aufrecht wie ein Herkules, alle an Körpergrösse weit überragend, imposant und doch erbärmlich hilflos wie ein kleines Kind.
In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages fanden sich Grossmutter Dubut und Charles vor den gusseisernen Toren der Pariser Polizeimagistratur ein und warteten auf Einlass. Gegen neun Uhr liess der Generalprokurator sie von einem älteren Mann in blauer Livree hereinbitten.Sie stiegen die breiten Steintreppen zum zweiten
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