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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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unterworfen.
    Jean-Baptiste Sanson sass regungslos in einem Fauteuil neben dem Ofen und starrte seinen Sohn ungläubig an. Er war seit einigen Wochen halbseitig gelähmt. Charles hatte es gewagt, seinem Vater nein zu sagen. Grossmutter Dubut stand majestätisch hinter ihrem gelähmten Sohn und fixierte ihren Enkel mit stechendem Blick. Sie erwartete mit sichtbarer Ungeduld, dass er widerrief. Aber er schwieg. Charles’Lieblingsschwester Dominique sass auf der Ofenbank und hielt den Blick gesenkt, wie sie es immer tat, wenn Ärger in der Luft lag. Seine anderen Geschwister musterten ihn mit gemischten Gefühlen. Einige sassen auf den dicken Holzdielen und lehnten sich gegen die warmen braunen Ofenkacheln. Die tiefhängende Holzdecke wurde von mächtigen Balken getragen. Daran hingen feuchte Wäschestücke zum Trocknen. Charles’ drei Schwestern freuten sich, dass ihr ältester Bruder zurückgekehrt war, doch seine vier Brüder nahmen es ihm übel, dass er den Unmut des Vaters und der Grossmutter auf sich gezogen hatte.
    »Das wäre ein schwerer Verrat«, sagte Grossmutter Dubut nach einer Weile. Charles schwieg immer noch. »Ist es denn nicht genug«, fuhr sie fort, »dass wir von der Gesellschaft geächtet und gehasst werden? Muss sich jetzt noch unser eigen Blut von uns abwenden?«
    Charles wagte kaum noch, seinem Vater in die Augen zu blicken, der in seinem abgewetzten Polstersessel ein jämmerliches Bild abgab. Er wirkte völlig hilflos. Charles liess seinen Blick über die Jagdmotive auf dem braunen Stoffüberzug des Fauteuils schweifen. Als kleiner Junge hatte er die Hirsche gezählt, die Hunde und die berittenen Jäger. Dem Mann mit dem Jagdhorn fehlte der Kopf. Dort klaffte ein Loch. »Habe ich denn nicht genügend Brüder?«, hörte sich Charles fragen. Er fühlte, dass seine Stimme versagte. Er schämte sich. Aber wenn er jetzt klein beigab, würde er sein Leben lang dafür büssen müssen. Er musste standhaft bleiben. Zwei seiner Brüder reckten mit Stolz den Kopf, denn sie hätten alles gegeben, um das Schwert der Gerechtigkeit führen zu dürfen. Doch sie waren zu jung, um zuverstehen, was das Amt wirklich bedeutete. Sie hatten noch nie gesehen, wie ein Kopf vom Rumpf getrennt wurde und das Blut in einer Fontäne herausspritzte.
    »Du bist der Älteste«, sagte Grossmutter Dubut knapp, »und im Übrigen gibt es in Frankreich genügend Städte für deine Brüder. Sie werden die Töchter von Henkern heiraten und wiederum Henker zeugen. Sie haben gar keine andere Wahl.«
    »O doch«, widersprach Charles, »Tante Brigitte heiratete einen Musiker.«
    »Tante Brigitte«, sagte Grossmutter Dubut mit Bitterkeit in der Stimme, »du weisst, was aus ihren Söhnen geworden ist? Sie wurden beide Henker. Das ist das Erbe der Sansons. Es ist kein Fluch, Charles, es ist einfach die Bestimmung.«
    »Aber ich liebe die Musik mehr als das Aufklappen der Falltür unter dem Galgen. Ich will Arzt werden und abends Klavier spielen. So stelle ich mir mein Leben vor.«
    »Was haben diese Holländer in Leiden bloss aus dir gemacht? Du entwirfst dein Leben? Was sind das für neue Ideen? Was bist du doch für ein unverschämter Bengel geworden! Du willst selber über dein Schicksal entscheiden? Gott entscheidet über dein Schicksal und entwirft dein Leben, und du hast dich zu fügen. Die Pflichterfüllung bestimmt deinen Weg. Und es gibt keine grössere Pflicht als die, der Familie zu gehorchen und zu dienen.«
    »Ich will nicht«, sagte Charles, »ich kann nicht.«
    Die Blicke der Familienmitglieder lasteten so schwer und vorwurfsvoll auf ihm, dass seine Knie bebten. Er spürte nicht nur den Druck seiner Grossmutter und all seiner Geschwister, er spürte den Druck all seiner Onkel und Tanten,die in Orléans, Tours, Dijon, Nantes und Cherbourg wohnten und regelmässig zu Weihnachten und Ostern zu den grossen Familientreffen nach Paris kamen. Er spürte den Druck all seiner Cousinen und Cousins, die das Gesetz der Familie nie in Frage stellten. Dieses Gesetz des bedingungslosen familiären Gehorsams war stärker als die Macht der Kirche oder gar der Krone. Denn es war die Familie, die ihre Mitglieder beschützte, es waren nicht die Musketiere des Königs.
    »Tritt näher zu mir«, sagte Jean-Baptiste mit ernster Stimme und versuchte krampfhaft, beide Arme zu heben, um seinen Sohn zu umarmen. Doch es gelang ihm nicht. Dominique wollte ihm mit dem Taschentuch, das sie stets bei sich trug, den Speichel aus dem rechten Mundwinkel

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