Der Henker von Paris
fragte der Junge mit bebender Stimme.
»Im Bett sind Sie nützlicher, Monsieur«, flüsterte sie, aber so, dass es Charles hören konnte.
Charles hatte wieder Zeit, über seine Zukunft nachzudenken. Er beschloss, endlich wieder das Jesuitenkloster zu besuchen. Er musste es tun. Es war ein innerer Zwang. Pater Gerbillon empfing ihn jovial und freundlich und führte ihn gleich in die Pharmacie. Dort waren einige Siamesinnen damit beschäftigt, getrocknete Kräuter im Mörser zu zerstampfen. Charles entdeckte Dan-Mali auf Anhieb, er war ausser sich vor Freude. Pater Gerbillon nahm es mit einem Schmunzeln zur Kenntnis und sagte, er sei gleich wieder zurück. Charles fasste sich ein Herz und ging auf Dan-Mali zu. Sie lächelte und senkte zur Begrüssung den Kopf respektvoll über den aneinandergelegten Händen. Dann standen sie sich einfach gegenüber und schauten sich an. Obwohl sie kein einziges Wort sprachen, kam es Charles so vor, als würden sie sich gegenseitig mit einem Redeschwall übergiessen.
Nach einer Weile sagte sie, dass sie seit ihrer Rückkehr fleissig Französisch lerne. Er würde ihr gerne dabei behilflich sein, erwiderte er freudig. Wenn sie jemanden zum Reden habe, würde sie viel leichter lernen. Sie nickte eifrig. Offenbar hatte sie alles verstanden. Dann blickte sie über seine Schulter, und ihr Lächeln gefror. Pater Gerbillon war zurück. Er zeigte nun Charles die neuen Gewürze aus Siam, doch Charles hatte nur Augen für Dan-Mali.
»Was glauben Sie, Pater Gerbillon, wäre es eine guteIdee, wenn ich einmal pro Woche mit Dan-Mali Französisch üben würde?«
Pater Gerbillon zögerte. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er schliesslich.
Einige Tage später traf ein Schreiben des Gerichts ein. Charles erwartete ein Vollstreckungsurteil, doch es war eine Vorladung für eine erneute Gerichtsverhandlung, die von der Marquise angestrengt worden war. Antoine hatte recht gehabt. Die gelangweilte Dame, die ihren Tag in Vergnügungsparks vertrödelte, würde ewig weiterprozessieren. Sie hatte genug Zeit und Geld.
Rechtzeitig liess sich Charles einen weiteren Anzug aus grünem Stoff schneidern und erschien in dieser Aufmachung vor Gericht. Antoine kam gleich auf ihn zu. »Daraus wird noch eine Freundschaft«, scherzte er, »aber sag mal, Charles, die Marquise sagte, du trägst Blau. Hat sie Mühe mit den Farben?«
»Es gibt Leute, die Rot nicht von Grün unterscheiden können. Die sind farbenblind. Aber dass man Blau nicht von Grün unterscheiden kann, das wäre mir neu.«
»Und das wüsstest du natürlich«, sagte Antoine mit ernster Miene, »du bist nämlich gescheiter als ich.« Dann klopfte er Charles gönnerhaft auf die Schulter. »Ich bin dir nicht böse, Charles, dank dir habe ich eine neue Klientin. Sie ist vermögend und maliziös, und sie braucht jeden Tag juristische Beratung. Weisst du, mit der Zeit entsteht so eine Art Beziehung zwischen Anwalt und Klientin. Die Marquise kniet sich in eine Materie rein und beginnt dann, ihre Freundinnen zu beraten. Und dafür braucht sie immermich. Und das verdanke ich dir, Charles. Ach, übrigens: Lass mich heute gewinnen, sonst krieg ich sie nach der Verhandlung nicht ins Bett.« Er lachte lauthals. Es war kein spontanes Lachen, eher verkrampft und niederträchtig.
Die Marquise betrat den Saal und ging sofort auf Antoine zu, ohne Charles eines Blickes zu würdigen.
Der Gerichtspräsident gähnte bereits vor der Eröffnung der Verhandlung. Mit monotoner Stimme verlas er die Beschwerde der Marquise und bat anschliessend Charles um eine kurze Stellungnahme. Charles erklärte dem Gericht, dass er adliger Herkunft sei, dass sein Vater der Chevalier Sanson de Longval sei und dass das Amt des Scharfrichters wohl kaum den Verlust dieses Adeltitels nach sich ziehen könne. Also dürfe er Blau tragen. Er erklärte ferner, dass er unabhängig vom Urteil kein Blau mehr tragen wolle, da es nicht zu seiner Gesichtsfarbe passe. Das löste im Publikum tumultartiges Gelächter aus. Viel Adel war anwesend, darunter auch der Marquis de Létorières, der sich vorzüglich zu amüsieren schien. Mit einem Lächeln drehte sich Charles zum Publikum, doch es gefror sofort, als er in der dritten Sitzreihe Pater Gerbillon entdeckte. Nun bestand kein Zweifel mehr daran, dass der Jesuitenpater wusste, dass Charles Monsieur de Paris war. Und wenn er es wusste, wusste es das ganze Kloster. Nie im Leben würde Gerbillon Charles in die Geheimnisse der Pharmazie einweihen. Nie im
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