Der Henker von Paris
Sie war verheiratet mit einem deutlich älteren Vorarbeiter, dessen Rücken von der schweren Feldarbeit gezeichnet war. Die Arbeit im Freien hatte seine Haut dunkel gegerbt. Auch er war ein fröhlicher und hilfsbereiter Mensch, der gern sang und sich mit den Tagelöhnern unterhielt. Marie-Anne war so ziemlich das Gegenteil. Sie war still und verfügte wie auch ihr Vater über eine natürliche Autorität. Es war schwer, an sie heranzukommen, denn sie sprach kaum. Kein Mensch konnte ihre Gedanken erraten. Sie war schlank, hochgewachsen und hatte einen seltsam durchdringenden Blick. Man hatte stets den Eindruck, sie wolle etwas sagen, könne aber nicht sprechen. War sie wütend? Würde sie gleich die Beherrschung verlieren? Sie wirkte meistens sehr angespannt. Wenn sie einen Krug Wasser brachte, waren ihre Gesichtszüge sanft und weich, voller Anmut, aber wenn sie sich abwendete und glaubte, von niemandem beobachtet zu werden, verfinsterte sich ihr Blick. Ihre Augen wurden wieder stechend, bedrohlich, als wäre sie bereit zu Gewalt, als könnte sie hassen und auf immer nachtragend sein. Es schien, als sei sie untröstlich erzürnt, dass man sie geboren hatte. Das war es. Untröstlich erzürnt, dass man sie geboren hatte, dachte Charles. Aber irgendetwas an ihr zog ihn an, ein geheimnisvoller Zauber. Bei ihr empfand er nicht die erotische Anziehung, die er normalerweise bei Frauen empfand. Bei ihr wurde kein Jagdfieber ausgelöst. Charles begehrte nicht,ihren nackten Körper zu sehen, sie zu küssen. Nein, nichts von alldem. Es war ein unbekannter Zauber, der Charles heimsuchte. Manchmal schien es ihm, als suchte er bei ihr Trost, weil er Dan-Mali verloren hatte. Aber sie sprach ja kaum. Sie schien sich nur für das Geschäft zu interessieren. Also kaufte Charles bei ihr Obst und Gemüse, obwohl sich sein Gehilfe Gros vor Nahrungsmitteln kaum noch retten konnte.
»Wollen Sie das alles essen?«, fragte sie mit einem Lächeln. Sie schien ihn längst zu durchschauen. Ja, wenn es ums Geschäft ging, konnte sie sogar lächeln.
»Es sind die besten Früchte weit und breit.«
Sie hob das Kinn etwas keck und überheblich und sagte leise: »Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Ich habe Ihren Vater selten wach gesehen«, sagte Charles unvermittelt. Er wollte das Thema wechseln.
»Er schläft viel«, sagte sie, »ich wecke ihn zum Essen, dann schläft er meistens wieder ein. Das ist das Alter, er ist bereits über achtzig, das sind zwei Menschenleben. Irgendwann wird er nicht mehr aufwachen und für immer schlafen.«
Hunde kläfften. Es waren weisse Jagdhunde mit langen Ohren. Sie eilten den sechs Jägern voraus, die auf das Gärtnerhaus zuritten. Marie-Anne wandte sich von Charles ab und erwartete die Ankunft der Hunde. Sie sprangen freudig an ihr hoch. Dann kniete sie nieder, um sie besser liebkosen zu können. Ein Hund begann ihr Ohr zu lecken, was sie sehr amüsierte. Sie schien die Hunde zu kennen und sehr zu mögen. So hatte Charles sie noch nie erlebt. Wie konnte man bloss bei Hunden so aufblühen und Menschen gegenüberso reserviert sein? Vielleicht lag es an ihm. Vielleicht wusste sie, dass er Henker war. Ja, das war vermutlich der Grund.
Charles bestieg sein Pferd und ritt langsam davon. Er kam dabei an der Jagdgesellschaft vorbei. Die Männer musterten ihn stumm. Keiner grüsste. Sie starrten ihn an, als wollten sie ihn mit ihren Blicken vertreiben. Charles wusste, dass er hier nicht mehr auftauchen musste. Sie würden Marie-Anne seinen Beruf verraten und allerlei Scheusslichkeiten auftischen. Wollte er nicht ledig und kinderlos bleiben, gab es auch für ihn nur die Möglichkeit, die Tochter eines Henkers zu heiraten. Oder Marie-Jeanne Bécu aus der Rue des Deux-Portes. Charles nahm sich vor, nicht mehr herzukommen. Er wollte sich eine andere Gegend zum Ausreiten suchen.
Zu Hause übergab er seinem Gehilfen Gros das Gemüse und das Obst. Dieser fragte, ob die Verkäuferin denn so hübsch sei. Charles bringe nach seinen Jagdausflügen so viel Ware ins Haus, dass er bald einen eigenen Marktstand eröffnen könne.
»Sie ist hübsch«, sagte Charles nach einer Weile. Er blieb in der Küche stehen und schaute Gros zu, wie er das Gemüse in einem Zuber wusch, »aber sie ist total verschlossen, man wird nicht schlau aus ihr.«
»Wenn man wissen will, wie die Mädchen werden, muss man die Eltern genau anschauen.« Gros lachte.
»Der Vater ist ein gutmütiger Kerl, dominant, säuft ein bisschen, doch das machen wohl alle im
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