Der Henker von Paris
Leben würde er erlauben, dass der Henker von Paris Dan-Mali Französischunterricht erteilte. Das Gericht erklärte die Klage wegen Nichtigkeit für abgewiesen. Für Charles war es ein Pyrrhussieg.
Pater Gerbillon wartete am Ausgang auf Charles. »Ich dachte, du hattest den Beruf deines Vaters gehasst und wolltest Arzt werden«, sagte er sichtlich enttäuscht.
»Das will ich immer noch«, erwiderte Charles trotzig, »aber ich musste es tun. Man zwang mich dazu. Ich wollte es nicht.«
Der Pater nickte nachdenklich. Schliesslich fasste er ihn an beiden Schultern. »Du stehst abseits der Gesellschaft, Charles, das wird kein einfaches Leben.«
»Ich werde Sie nie mehr belästigen«, sagte Charles.
Pater Gerbillon lächelte versöhnlich. »Auch ich stehe abseits der Gesellschaft. Wie sollte ich dich also verurteilen?«
»Ein Jesuitenpater steht doch nicht abseits der Gesellschaft.«
»Manchmal eben doch.«
»Darf ich Sie noch besuchen?«
»Du meinst, ob du Dan-Mali noch besuchen darfst?«
Charles fuhr sich verlegen mit den Fingern durchs Haar, als hätte man ihn gerade beim Lügen erwischt.
»Vielleicht ist es besser, wenn du eine Weile nicht kommst«, sagte der Pater, »du bist jetzt bekannt wie ein bunter Hund. Und wir kehren bald nach Siam zurück. Diese zweite Auseinandersetzung wäre nicht nötig gewesen, Charles, du trägst ja neuerdings eh Grün. Man sollte wissen, wann es genug ist.«
Kurz darauf liess sich der Marquis de Létorières in einem identischen grünen Anzug in der Öffentlichkeit blicken, und bald schon nannte man diese Kreation mode à la Sanson, und Hunderte, ja Tausende von Pariser Männern liessen sichgrüne Anzüge schneidern, als wollten sie kundtun: Wir alle sind wie Charles-Henri Sanson. Wir vollstrecken mit ihm. Er ist einer von uns. Wir sind Charles-Henri Sanson. Aber in Wirklichkeit war es nichts von alledem. Es war bloss ein modischer Spleen der gelangweilten saturierten Oberschicht, und vielleicht wollten einige adlige Sprösslinge ihre Verwandten schockieren, aber niemand wollte allen Ernstes ein Sanson sein.
Charles wollte Pater Gerbillons Aussage überprüfen und wartete geduldig auf der Strasse vor dem Collège Louis-le-Grand. Als die Turmuhr fünf schlug, strömten die Schülerinnen und Schüler aus dem Gebäude. Die Siamesinnen waren nicht zu übersehen. Sie waren wesentlich kleiner als ihre Mitschülerinnen und stets beisammen. Dan-Mali führte die kleine Gruppe an. Als sie Charles sah, lief sie sofort auf ihn zu. Doch plötzlich schien es ihr peinlich, dass sie ihre Gefühle derart offen gezeigt hatte, und sie verlangsamte ihren Schritt. Ihre Freundinnen warteten.
»Ich wollte dich wiedersehen«, sagte Charles.
Dan-Mali strahlte übers ganze Gesicht.
»Seit ich dich damals das erste Mal gesehen habe …« Charles suchte nach Worten. »Ich möchte dich öfter sehen, jeden Tag.«
Dan-Mali nickte und berührte zaghaft seinen Arm. »Ich muss zu meinem König zurück. Nach Siam.«
»Du sprichst unsere Sprache schon ganz gut.«
»Sprache ist wie Musik. Wenn man die Töne kennt, kann man sprechen.«
»Du könntest bei mir bleiben. Bei mir wohnen.«
»Vielleicht in einem anderen Leben.«
Charles rang nach Worten. Die wartenden Siamesinnen kicherten.
Dan-Mali schüttelte den Kopf. »Ich gehöre Pater Gerbillon. Ich habe es Mutter versprochen. Der Pater hilft meiner Familie in Siam. Ich bin dankbar. Ich bin immer da für Pater Gerbillon. Ohne mich hat meine Familie Hunger. Meine Familie braucht mich. Buddha sieht alles. Buddha weiss alles.«
»Ist Buddha ein guter Gott?«, fragte Charles.
Dan-Mali kreuzte die Arme vor der Brust und senkte ehrfürchtig den Kopf. »Buddha hat viele Gesichter.«
»Verflucht er manchmal Menschen?«
»Buddha kann bestrafen. Wenn du Schlechtes tust.«
»Verflucht er dich? Belegt er Menschen ein Leben lang mit einem Fluch?«
»Buddha kann Menschen ein ganzes Leben lang bestrafen.« Dan-Mali machte Anstalten, zu ihren Freundinnen zurückzukehren.
»Warte«, rief Charles, »wann können wir uns wiedersehen?«
»In einem anderen Leben. Ich gehe nach Siam.«
»Dann werden wir uns nie mehr sehen?«
Dan-Mali schüttelte heftig den Kopf. Sie schien verzweifelt. Dann lief sie in Richtung Jesuitenkloster davon. Ihre Freundinnen holten sie ein und begannen sie zu trösten. Sie blickte nicht zurück.
Charles brauchte niemanden, der ihn tröstete. Mehrfach hatte er schon erfahren müssen, dass das Leben hart warund das Schicksal kein Erbarmen
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