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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Cueni
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kannte. Es nährt das Leben vom Leide sich. Er wusste nicht mehr, wo er den Satz gelesen hatte. Aber in diesem Augenblick kam er ihm in den Sinn. Mag sein, dass es in Paris Menschen gab, die heiter und unbeschwert durchs Leben gingen, aber das war nicht das normale Leben. Das Leben war voller Entbehrungen, geplatzter Träume und blutender Seelen.
    Charles brauchte Monate, um darüber hinwegzukommen. Je mehr er sich damit abfinden wollte, dass ein Leben mit Dan-Mali nicht möglich war, desto mehr sehnte er sich danach. Er quälte sich. Doch irgendwann, nach zahllosen schlaflosen Nächten, überwog die Einsicht, dass es kein Leben mit ihr geben würde. Er tröstete sich damit, dass die kulturellen Unterschiede zu gross gewesen wären. Gleichzeitig wusste er, dass er sie liebte, wie er noch nie jemanden geliebt hatte. Sie war nach seiner frühverstorbenen Mutter der erste Mensch, dem er sich bedingungslos hingegeben hätte. Für Dan-Mali hätte er sein Leben gegeben.

7
    Auf seinen Ausritten in die Wälder der Umgebung von Montmartre war Charles stets allein. Keiner wollte mit dem Henker jagen. Hinter den Wäldern erstreckten sich Gemüsebeete, so weit das Auge reichte, und im Süden, wenn man Richtung Paris ging, sah man die einfachen Häuser der Pächter der Abtei Saint-Pierre de Montmartre. Auf einem kleinen Hügel stand das Haus der Gärtnerfamilie Jugier, das gleichzeitig ein kleiner Gasthof war, in dem Charles manchmal einkehrte. Die beiden Töchter, Marie-Anne und Marie-Luce, waren um die dreissig. Der Vater sass tagaus, tagein in einem Schaukelstuhl vor dem Haus und schlief oder beobachtete die zahlreichen Gärtner, die auf seinen Gemüsebeeten arbeiteten. Zu seiner Rechten hatte er eine Flasche Kartoffelschnaps, die er jeweils bis zum Abend leerte. Manchmal sprang er unvermittelt hoch, ging mit energischem Schritt auf einen der Tagelöhner zu und zeigte ihm, wie man richtig arbeitet: »Lass dir einen Rat geben, streng dich mehr an, und verrichte deine Arbeit mit Akribie, so vergeht die Zeit schneller.« Die Tagelöhner nickten jeweils nur. Sie kannten das cholerische Temperament des Mannes. Manchmal, wenn er bereits zu viel getrunken hatte, fiel er der Länge nach hin, und die Tagelöhner versuchten, ihn aus dem Gemüsebeet zu hieven. Er wurde dann jeweils richtig wütend, denn ein Mann wie er brauchte keine Hilfe. Seine Ehefrau war sehr kleingewachsen und schwatzte derart enervierend auf die Wanderer ein, die hier eine Rast einlegten, dass die meisten sich damit begnügten, Wasser für ihreHunde zu verlangen. Wenn die beiden Alten allein waren, zankten sie sich um alles und jedes. Der Mann war eigentlich nicht streitsüchtig, aber die Frau schlich wie eine giftige Tarantel um seinen Schaukelstuhl herum und versuchte, ihn gegen irgendetwas oder irgendjemanden aufzustacheln. »Gib doch endlich Ruhe«, pflegte er dann zu sagen und ging zu den Gemüsebeeten. »Eines Tages werde ich Ruhe geben«, schrie sie ihm nach und reinigte zum wiederholten Male die Tische. Zwischendurch schaute sie unauffällig nach links und rechts und gab einem Hund, der ihr im Wege stand, einen kräftigen Tritt in die Rippen. Der Hund schreckte jaulend auf und zottelte davon. Sie hasste Hunde. »Die machen nur Dreck«, sagte sie. Aber ohne Hunde hätte sie nicht ihrer Religion frönen können: saubermachen und nochmals saubermachen.
    Als sie Charles sah, holte sie einen Krug Wasser und einen Becher und stellte beides auf den äussersten Tisch, den Charles bevorzugte. Er setzte sich und beobachtete, in Gedanken versunken, die Ankunft einer Jagdgesellschaft. Dass er sogar hier ausgeschlossen war, kränkte ihn. Auf Theater und Oper mochte er noch verzichten, obwohl ihm das nicht leichtfiel, aber die Pferde, die Hunde, der Ausritt in die Natur, darauf wollte er nicht verzichten. Und ausgerechnet hier, auch hier, war er ein Geächteter. Obwohl Charles den Frauen gefiel, hatte er kaum eine Chance, eine Frau zu finden. Denn sobald er seinen Beruf erwähnte, wandten sie sich ab. Sein Beruf ekelte sie an. Zwar hatte er bereits die richtige Frau gefunden, Dan-Mali, aber sie hatte ihm klargemacht, dass eine Verbindung nicht möglich war. Er dachte immer noch an sie. Selbst wenn er hier draussensass und von seinem Tisch aus die Tür des Gärtnerhauses beobachtete. Meist traten die beiden Schwestern zusammen aus dem Haus. Marie-Luce war ein sehr freundlicher und gutmütiger Charakter. Auffallend waren ihre feuerrote Mähne und ihr energischer Schritt.

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