Der Henker von Paris
Alter. Die Mutter aber ist eine Hexe, die ständig am Meckern ist.«
»Und«, fragte Gros, »wem gleicht sie?«
»Vom Körperbau her schlägt sie dem Vater nach.«
»Lassen Sie sich nicht täuschen, Monsieur, da hat schon mancher eine Überraschung erlebt. Vielleicht hat sie den Körperbau des Vaters und den Furienverstand der Mutter. Und denken Sie daran, jeder kleine Charakterzug in jungen Jahren entwickelt sich zu etwas Grossem, wenn die Mädchen älter werden. Was Sie jetzt kriegen, ist nicht das, was Sie in zwanzig Jahren haben werden.«
Charles nahm die beiden Hasen, die er über der Schulter trug, und legte sie auf den Tisch. »Mach uns die Hasen, Gros. Ich brauche wieder mal richtiges Fleisch.«
»Dafür ist es zu spät, Monsieur, es gibt heute Huhn.«
Barre, Firmin und Desmorets betraten die Küche und setzten sich an den Tisch. Sie waren hungrig. Schweigend assen die Männer ihr Abendbrot und tranken dazu mit Wasser verdünnten Rotwein. An jenem Abend fühlte jeder die Leere im Hause. Es fehlte eine Frau. Charles’ Nachdenklichkeit hatte alle verstummen lassen. Keiner wollte mit irgendeinem dummen Geschwätz den Unmut von Monsieur de Paris auf sich ziehen. Charles nahm sich fest vor, eine Frau zu suchen. Er wollte eine Frau und Söhne. Und Töchter, wieso nicht auch Töchter.
Wenn Charles nachts nicht schlafen konnte, spielte er immer Klavier, mitten in der Nacht, und seine Gehilfen wussten, dass der Henker leidet. Doch bald war das Klavier so verstimmt wie er selbst. Da er aber unbedingt noch Klavier spielen wollte, liess er nach dem deutschen Orgelbauer Tobias Schmidt rufen, der das Klavier gebaut hatte.
Tobias Schmidt war ein stiller, diskreter Mensch, der in einer eigenen Welt lebte. Sie bestand aus Musik undmerkwürdigen Maschinen, die er erfand und auch konstruierte. Wie alle wirklich kreativen Menschen hatte er nicht nur ein Talent. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass der Mann, der es eines Tages fertigbringen würde, Nahrungsmittel haltbar zu machen, die Welt erobern würde. Er arbeitete an Destillationsmethoden und an harzhaltigen Klebstoffen, mit denen man Glasbehälter luftdicht verschliessen konnte. Er war um die vierzig und lebte allein in einem alten Fabrikgebäude hinter der Kathedrale Notre-Dame. Er war spindeldürr, beinahe kahl, und sein Gesicht war stets grau und blutleer, weil er sich schlecht ernährte und sein dunkles Fabrikgebäude kaum je verliess. Er war ein Nachtmensch, ein Tüftler, der seit seiner Erfindung einer hydraulischen Presse in Fachkreisen einen sehr guten Ruf genoss. Zum Henkersberuf hatte er sich nur ein einziges Mal geäussert: »Einer muss es ja tun, Monsieur.« Die Musik verband die beiden Männer und schaffte zwischen ihnen ein stilles Einverständnis. Sie brauchten nicht viele Worte. Als das Klavier gestimmt war, setzten sie sich nebeneinander auf die Klavierbank und spielten. Anschliessend tranken sie in der Küche noch ein Glas Wein. Die gemeinsame Musik hatte sie gesättigt wie eine üppige Mahlzeit.
»Sie sollten heiraten, mein Freund«, sagte Schmidt unvermittelt.
»Und Sie erst«, sagte Charles lachend.
»Ich bin mit meinen Maschinen verheiratet, mit hydraulischen Pressen, Klavieren, Orgeln und Maschinen, die noch keiner gesehen hat. Das Problem ist, dass ich nicht weiss, wozu die Maschinen gut sind, denn ich erfinde sie manchmal, bevor man sie braucht. Nur bei der Konservierungvon Nahrungsmitteln bin ich mir ganz sicher. Einige Seefahrer haben bereits Gläser mit an Bord genommen, doch leider zerbricht das Glas oft auf hoher See. Wenn es mir aber gelingen sollte, Gemüse und Obst in Blechdosen zu konservieren, dann wird dies nicht nur der Menschheit helfen, nach schlechten Erntejahren zu überleben, sondern es wird auch die Kriegsführung revolutionieren. Man wird Feldzüge planen können bis ans Ende der Welt. Denn bisher wurden Armeen öfter von verfaulten Nahrungsmitteln gestoppt als von gegnerischen Soldaten. Mit Konserven im Gepäck kann jede Armee bis ans Ende der Welt segeln.«
»Es wird Weltkriege geben«, sagte Charles.
»Wenn eine Idee erst einmal ausgesprochen ist, gibt es kein Halten mehr. Aber Sie sollten sich wirklich eine Frau suchen. Sie sind fürs Alleinsein nicht geeignet. Ihr Beruf ist schwer genug. Sie brauchen eine Frau, die zu Hause auf Sie wartet.«
»Ich weiss«, antwortete Charles, »aber es ist für einen Henker nicht einfach, eine Frau zu finden.«
»Es muss nicht Liebe sein«, sagte Schmidt, »es kann auch Vernunft
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