Der Henker von Paris
aus allen sozialen Schichten, die sich darüber Gedanken machen. Sie nennen sich Grand Orient de France und tagen im Verborgenen. Sie tragen dabei eine rote Mütze, die Mütze des Mithras, des Sonnengottes. Er ist der Gott der prähistorischen Jäger und der Ursprung aller Religionen. Er verkörpert die göttliche Natur. Die Brüder des Grand Orient de France glauben, dass alle Menschen von Geburt an gleich sind. Wir glauben an Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit.«
»Sie wollen eine Revolution?«, fragte Charles. »Oder wollen Sie lediglich meinen Standpunkt testen?«
»Nein, nein«, Gorsas wehrte ab, »ich habe Sie damals vor Gericht beobachtet. Man hat mich beauftragt, Sie zu kontaktieren. Sie sind Henker, das kümmert uns nicht. Siehaben Courage, Stehvermögen und einen scharfen, analytischen Verstand. Solche Männer brauchen wir. Dem Grand Orient de France können auch Frauen beitreten, denn Frauen und Männer sollen in der Welt von morgen die gleichen Rechte haben.«
»Ich werde darüber nachdenken, Monsieur Gorsas«, sagte Charles, um das Gespräch zu beenden und diesen Ort rasch verlassen zu können.
»Aber nicht zu lange. Sie müssen eine Entscheidung treffen. In Paris braut sich etwas zusammen. Jeder Sturm hat seine Vorboten, Monsieur de Paris. Ich habe die ersten gesehen, es liegt etwas in der Luft.
Charles nahm sich vor, dieses Haus nie mehr zu betreten. Er hatte sich auch vorgenommen, nie mehr zum Gärtnerhaus auszureiten. Und doch tat er es nun erneut. Er redete sich ein, dass er die Gegend mochte. Sein Ausritt in die Umgebung von Montmartre war ein Erfolg. Er schoss ein Reh. Auf dem Heimweg hielt er beim Gärtnerhaus an. Seine Hunde brauchten Wasser. Es war niemand da. Doch bei den endlosen Gemüsegärten standen einige Leute beisammen. Er erkannte Marie-Anne Jugier, die offensichtlich dabei war, den zahlreichen Saisonarbeitern Anweisungen zu erteilen. Er band sein Pferd an und vergewisserte sich, dass das tote Reh gut befestigt war. Dann setzte er sich an einen der Tische vor dem Haus.
Marie-Anne liess nicht lange auf sich warten. Sie kam auf Charles zu und fragte ihn, ob er ein Glas Wasser oder Wein möchte. Charles bat um Wein. Bei seinem Vorhaben konnte ein Glas Wein nicht schaden.
Marie-Anne kam mit einer Karaffe zurück, setzte sich Charles gegenüber und sagte: »Mein Vater ist letzte Woche gestorben.«
»Letzte Woche?«, wiederholte Charles. »Das tut mir leid.« Dann tranken sie wortlos ihren Wein.
Marie-Anne blickte verträumt in die Ferne. Sie schien den süssen Schmerz der Melancholie zu lieben. Als Charles sein Glas abstellte, schaute sie ihn kurz an. Sie wollte erneut den Blick in die Ferne schweifen lassen, doch er blieb an Charles haften. »Man kann nicht ewig leben«, sagte sie wie zu sich selbst. »Jetzt trinken wir seinen Lieblingswein, den er für besondere Gelegenheiten aufbewahrt hatte. Das ist wohl das Schicksal aller guten Weine. Sie sind stets zu kostbar und zu teuer, um sie aus nichtigem Anlass zu trinken. Deshalb werden sie schliesslich von den Erben getrunken. Aus nichtigem Anlass.«
»Dieser Anlass ist vielleicht nicht so nichtig«, sagte Charles und fragte nach einer Weile: »Haben Sie noch nie ans Heiraten gedacht?« Er schaute Marie-Anne mit offenen, freundlichen Augen an.
Sie lächelte verlegen. »Manchmal«, sagte sie. »Falls Gott will, wird er mir jemanden schicken. Jetzt hat er mir den Vater genommen, nun wird er mir vielleicht jemanden schicken.«
»Falls Gott Ihnen jemanden schicken würde, würden Sie ihn dann erkennen?«
»Ich weiss es nicht. Gott müsste mir noch ein Zeichen geben, sonst hat es ja keinen Sinn, dass er mir jemanden schickt.«
Charles nickte nachdenklich.
»Er müsste mir einen Heiratsantrag machen. Ich bemerke nie, wenn Männer mich mögen. Ich habe es stetsJahre später erfahren, wenn diese Männer bereits verheiratet waren und Kinder hatten. Und ich stehe immer noch inmitten meiner Gemüsebeete.«
»Vermissen Sie die Liebe nie?«
»Aber Monsieur, Sie sind doch nicht etwa hergekommen, um mit mir dieses seltsame Gespräch zu führen?«
»Eigentlich schon. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, einen Mann zu heiraten, der nicht Ihrem Stand entspricht, einen Mann, der rechtschaffen seine Arbeit tut, aber eben doch niemandes Stand entspricht.«
»Das müsste ein seltsamer Beruf sein, aber wenn mich dieser Mann aufrichtig liebt …«
»Das tue ich, Mademoiselle.«
Nun liefen beide rot an und wussten nicht
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