Der Henker von Paris
so recht, wie weiter.
»Ich habe ein Reh geschossen«, sagte Charles ohne Übergang. »Ich werde jetzt nach Hause gehen, und mein Gehilfe Barre wird das Reh ausweiden. Wenn es nicht zu aufdringlich ist, würde ich Ihnen morgen früh gerne das beste Stück vorbeibringen. Den Rücken. Ich bin sicher, Sie können ihn wunderbar zubereiten.«
»Das könnte ich nur annehmen, wenn Sie das Mahl anschliessend mit mir und meiner Mutter teilen.«
»Gut«, sagte er, »dann kann ich gleich Ihre Mutter um Ihre Hand bitten.«
»Gibt es noch etwas, was Sie mir sagen möchten?«, fragte sie.
»Ja, ich bin der Henker von Paris.«
»Ich weiss, ich habe es immer gewusst.«
Charles-Henri Sanson heiratete am 20. Januar 1765 die sechs Jahre ältere Marie-Anne Jugier in der Kirche Saint-Pierre de Montmartre. Er war knapp sechsundzwanzig Jahre alt. Draussen lag dicker Pulverschnee. Charles wusste nicht, ob er nun aus Liebe oder aus Vernunft geheiratet hatte. Er liebte die Nähe zu Marie-Anne, ihre stille, sanfte Art, die stets von einer lieblichen Melancholie durchdrungen war, die Mitgefühl weckte. Er sehnte sich nach ihrer Umarmung, wobei er nicht wusste, ob er sie beschützen sollte oder ob er an ihrem Busen Frieden suchte. Sie sprach nicht sehr viel. Manchmal kam es ihm vor, als würde sie mit den Hunden, die sie im Hof hielt, mehr sprechen. Es war, als hätte sie mit diesen Jagdtieren eine stille Übereinkunft getroffen, die sie sehr glücklich machte. Ihre andere Leidenschaft galt den Kräutern und Gemüsebeeten, die sie mit Geduld und Liebe pflegte. Sie liebte auch Charles, durchaus, aber auf ihre Weise. Sie kochte, was er mochte, und wartete stets bis spätabends auf seine Rückkehr. Wenn sie ihn begehrte, verdunkelte sie das Zimmer und legte sich aufs Bett. Er tastete sich zu ihrem Körper vor und küsste sie. Sie schien es zu mögen, aber ihre Scham durfte er nicht küssen. Sie hielt dies für unrein. Überhaupt machte es den Eindruck, als schämte sie sich ihrer Nacktheit. Wenn sie ihren Höhepunkt erreichte, hörte man nur ein leises Wimmern, und ihre Fingernägel gruben sich tief in Charles’ Schultern. Einmal, als er am Morgen vor dem Wassertrog im Hof stand, fragte sie ihn erschreckt und ahnungslos, was mit seiner Schulter passiert sei, ob ein Falke ihn angegriffen habe. Zuerst hielt es Charles für einen Scherz, aber Marie-Anne hatte keinen Humor und sprach nicht gern über ihre Gefühle. Doch sieliebten sich oft. Charles lernte, dass er dabei nicht sprechen durfte. Es war beinahe ein sakraler Akt im Dunkeln.
Als sie schwanger wurde, freuten sich beide. Die Geburt aber war sehr schwierig. Es waren Zwillinge, der eine, Henri, ein grosser Brocken von beinahe fünf Kilo, der andere, Gabriel, ein schmächtiges Baby mit Untergewicht und seltsam verkrümmten Füssen. Die Hebamme meinte, das werde sich schon ergeben, aber es ergab sich nicht. Die Füsse blieben wie klumpige Sicheln, und Gabriel bewegte sich noch auf allen vieren, als Henri längst auf zwei Beinen herumwatschelte. Für Marie-Anne war es ein Schock. Sie bildete sich ein, sie habe versagt. Sie fühlte sich erniedrigt. Charles konnte das nie nachvollziehen. Er liebte seine beiden Söhne über alles. Marie-Anne aber entwickelte ein seltsam distanziertes Verhältnis zu Gabriel. Sie wollte diese Behinderung nicht akzeptieren.
»Du trägst keine Schuld«, sagte Charles immer wieder, »nicht jeder Baum wächst wie eine Kerze, das ist die Natur, Marie-Anne. Wir haben zwei Söhne. Freu dich darüber.«
Doch Marie-Anne konnte sich nicht freuen. Und insgeheim machte sie diesem unschuldigen Geschöpf mit den seltsamen Füssen Vorwürfe. Sie sprach es nicht aus. Aber es war nicht zu übersehen.
Die beiden Buben wuchsen heran, und Marie-Anne versuchte weiterhin, die perfekte Hausfrau und Ehefrau zu sein und Charles mit ihrer Küche zu verwöhnen. Doch sie mochte nicht mehr mit ihm schlafen. Am Anfang hatte sie allerlei Ausreden, bis er schliesslich begriff, dass sie nicht mehr wollte. Zu gross war ihre Angst, noch mal schwanger zu werden.
»Vielleicht ist das der Fluch«, murmelte sie eines Abends, als die Kinder im Bett waren und sie mit Charles Rotwein trank. Zuerst wusste er nicht, was sie meinte. Dann begriff er es. Offenbar liess sie dieser Gedanke nicht mehr los. »Weil du Henker bist. Das bringt kein Glück. Meine Mutter hat mich gewarnt. Sie sagte, Gott werde uns bestrafen.«
»Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob Gott alles planen kann. Man verliert doch
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