Der Henker von Paris
recht schnell die Übersicht bei all den Menschen.«
»Spar dir deinen Spott!«, schrie sie und schenkte sich erneut Wein ein.
Charles nahm ihr den Krug aus der Hand. »Es ist der Wein, Marie-Anne, du solltest jetzt aufhören und ins Bett gehen.«
»Ich trinke so viel, wie ich will«, fauchte sie und riss ihm den Krug aus der Hand.
Wenn sie am Abend trank, war sie am Morgen verkatert und unausstehlich. Sie schrie herum und kümmerte sich kaum um die Kinder. Henri und Gabriel flohen meistens in die Pharmacie. Charles beendete dann seine Studien und brachte die beiden ins Wohnzimmer. Dort stand das Klavier. Er setzte sie auf die Bank und lehrte sie spielen. Henri hatte nicht so grosses Interesse, aber Gabriel war fasziniert von den Melodien, die er dem Instrument entlocken konnte. So begannen sie zu zweit am Abend zu musizieren, während Marie-Anne in der dunklen Küche sass und ihren Wein trank. Sie wollte kein Licht. Sie kultivierte ihre Melancholie wie eine Pflanze.
Charles war konsterniert. Er hatte die Einsamkeit gegen die Hölle eingetauscht. Immer öfter schlief er in derPharmacie, denn er war es leid, in den frühen Morgenstunden in irgendwelche aggressiven Gespräche verwickelt zu werden. Jeder Versuch einer Versöhnung endete in einer Kaskade von Vorwürfen und gipfelte in der Behauptung, Charles sei daran schuld, dass Gabriel kaputte Füsse habe. Charles ertrug die Vorwürfe, das tägliche Geschrei, die Trinkerei, aber was er nicht ertrug, war, dass Gabriel und Henri die Worte ihrer Mutter durchs ganze Haus mithören konnten. Er wusste, dass Tiere manchmal ihre Jungen verstossen, dass dies auch unter den Menschen vorkam, war ihm neu. Umso intensiver kümmerte er sich um seine Söhne und begann, in der Pharmacie Schienen für Gabriels Füsse zu entwerfen. Er baute ein ledernes Gerüst, das die Füsse in die richtige Position brachte und genügend Halt gewährte. Henri war begeistert davon und half seinem Bruder auf die Beine. Stundenlang war er mit ihm im Hof und versuchte, ihm das Gehen beizubringen. Mit der Zeit wagten sie sich auf die Strasse hinaus, doch das Pflaster war derart uneben, und es fehlten so viele Steine, dass es für Gabriel fast unmöglich war, sich dort zu bewegen. Am sichersten fühlte er sich am Klavier. Und an der Hand seines Bruders.
Für Henri war die Situation keineswegs einfach. Immer wieder wollte seine Mutter ihm einreden, er sei schuld am Gebrechen seines Bruders, weil er ihm in der Gebärmutter zu viel Platz weggenommen habe. Mit der Zeit nahm er seine Mutter nicht mehr ernst, und wenn er wütend war, sagte er, dass weder Gabriel noch er jemals den Wunsch geäussert hätten, geboren zu werden. Dies reizte Marie-Anne umso mehr, und sie brüllte, sein Vater trage an allem dieSchuld. Er habe sie geschwängert. Nein, vergewaltigt. Da er sie nie gefragt habe, ob sie Kinder wolle, sei dies eine Vergewaltigung gewesen. Henri ging ihr fortan aus dem Weg. Gabriel hatte diese Möglichkeit nicht. Er flüchtete in die Musik und entwickelte ein sehr feines Ohr. Hin und wieder bat er um einen Besuch von Tobias Schmidt, damit dieser das Klavier neu stimme. Marie-Anne mochte den Deutschen nicht. Sie hielt seine Arbeit für so überflüssig wie die Musik selbst. Doch Charles liess in dieser Beziehung nicht mit sich reden. Er hatte seine Forschung in der Pharmacie weitgehend aufgegeben, um sich in seiner freien Zeit um Gabriel zu kümmern. Er liess nach Tobias Schmidt rufen, sooft es Gabriel wünschte.
Eines Abends, als Schmidt wie üblich nach getaner Arbeit noch ein Glas Wein mit Charles trank, sagte er: »Monsieur de Paris, ich habe Gabriels Schienen gesehen. Das kann man besser machen. Lassen Sie es mich versuchen. Es wird Sie nichts kosten. Man muss das Leder verstärken, damit die Ferse mehr Halt hat. Mein Vater war Schuhmacher, er hat mir einiges beigebracht, aber ich hatte mehr Interesse daran, Neues zu erfinden. Doch ich kann Füsse lesen. Ich hab’s nicht verlernt. Gabriel hat einen Knick-Senkfuss, einen Hohlfuss und obendrein noch einen Spreizfuss. Wir sollten ihm spezielle Schuhe anfertigen, die den Fuss an der Innenseite anheben. Dann hätte er einen besseren Stand.«
Charles nickte.
»Ich müsste aber einen Schuhmacher beiziehen», sagte Schmidt. »Der wird etwas kosten.«
»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Charles. DieVorstellung, dass Gabriels Füsse in Ordnung kamen, begeisterte ihn so, dass er in dieser Nacht kaum Schlaf fand.
Nach diesem Abend zog sich Marie-Anne
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